Franz Kafka und seine Steglitzer Wohnungen
Von Klaus P. Mader

Vor wenigen Tagen, am 3. Juni, jährte sich der Todestag Franz Kafkas zum 50. Mal. Der Dichter verstarb, kurz vor Vollendung seines 41. Lebensjahres am 3. Juli 1924, in einem Sanatorium in Kierling bei Wien an Lungentuberkulose. Dorthin war er von Berlin aus, über Prag gefahren in der Hoffnung, hier medizinische Hilfe zu finden.
In seiner ständigen Begleitung befanden sich der junge Mediziner Robert Klopstock und Dora Diamant, die Freundin seiner letzten Lebensmonate.

Jenes junge Mädchen, das - gleich ihm - einer jüdischen Familie entstammte, lernte er in einer Ferienkolonie des Berliner Jüdischen Volksheimes in Müritz an der Ostsee kennen, wo er sich im Juli 1923 aufhielt. Kafka ist von der chassidischen Erziehung und dem natürlichen und hilfsbereiten Wesen der jungen Heimhelferin gleichermaßen angezogen. Ende September fährt er zu ihr nach Berlin.

Kafka hatte Berlin zuvor schon mehrmals für wenige Tage besucht. So 1910 (?), 1913 zum Osterfest und im Mai, sowie 1914 ebenfalls zum Osterfest. Da in den beiden letztgenannten Jahren nur seine mehrmalige Verlobte Felice Bauer der Besuchsgrund war, darf als sicher gelten, daß er während dieser Zeit in Berlin W. in der Wilmersdorfer Straße 73, der elterlichen Wohnung seiner Verlobten, gewohnt hat. Eine weitere Reise von Prag nach Berlin, für den 23. und 24. Januar 1915 geplant, fand nicht statt.

So kam er in eine ihm nicht mehr fremde Stadt, über die er sich schon 1914 in einem undatierten Brief an Grete Bloch, der Freundin Felice Bauers, äußerte: "Berlin ist eine soviel bessere Stadt als Wien, dieses absterbende Riesendorf ... Die stärkende Wirkung von Berlin fühle ja selbst ich oder vielmehr ich weiß, ich würde sie zu fühlen bekommen, wenn ich nach Berlin übersiedelte."

Kalka und Dora Diamant bezogen in Steglitz in der Miquelstraße 8 - sie heißt jetzt Muthesiusstraße nach dem Gründer des Deutschen Werkbundes, der hier verunglückte - eine Wohnung.
Er war nun glücklich über seinen eigenen "Hausstand", den er sich gegen alle inneren und äußeren Widerstände, von Prag fortzuziehen, hier geschaffen hatte. In einem Brief an seine Schwester Valli schilderte er seine neue Behausung und seinem Freund Felix Weltsch die neue Umgebung:
"...meine Gasse ist etwa die letzte halb städtische, hinter ihr löst sich das Land in Gärten und Villen auf, alte üppige Gärten. An lauen Abenden ist ein so starker Duft, wie ich ihn von anderswoher kaum kenne. Dann ist da noch der große Botanische Garten, eine Viertelstunde von mir, und der Wald, wo ich allerdings noch nicht war, keine halbe Stunde."

Doch schon wenige Wochen später mußten er und Dora ausziehen. Der Wirtin schien dieser "Hausstand" wohl etwas "anrüchig". Die Grunewaldstraße 13 - nur wenige Schritte weiter - wurde nun sein letztes Zuhause in Berlin. Hier entstanden viele kleine Erzählungen, die jedoch auf Kafkas Wunsch und in seinem Beisein von Dora Diamant vernichtet wurden oder in den Wirren der nachfolgenden Jahre verloren gingen. Die Erzählungen "Eine kleine Frau", in der er seine Wirtin aus der Miquelstraße porträtierte, und "Der Bau" sind indes aus jenen Monaten gerettet worden.
Die Krankheit verschlimmerte sich rasch. In Briefen an Max Brod und an seine Bekannte Milena finden wir genaue Schilderungen seines Zustandes. Dieser ist im März 1924 so besorgniserregend, daß sein Onkel Siegfried Löwy und Max Brod, die nach Berlin gekommen waren, ihn nach Prag zurückbringen. Nach sechsmonatigem Aufenthalt mußte er unsere Stadt wieder verlassen - für immer.

Zu seinen Lebzeiten und noch Jahre danach war Kafka fast unbekannt. Erst zehn Jahre nach seinem Tod erschienen die ersten ausführlichen Studien über seine Person und sein Werk, mit Max Brods Monographie an der Spitze. Dieser hatte den Nachlaß Kafkas gesichtet und zum Teil seinem Archiv zugeordnet. Er wurde damit zum "glücklichsten Besitzer der Literaturgeschichte", dem die Kafka-Forschung sehr viel verdankt.
Anfang der dreißiger Jahre beschlagnahmte die Gestapo in der Berliner Wohnung Dora Diamants ein Konvolut Manuskripte; und die 1935 von Max Brod bearbeitete erste Gesamtausgabe erschien zwar noch, wurde dann jedoch sofort verboten.

Die nun nachfolgende, nicht nur für die Literaturgeschichte unrühmliche Zeit ließ in Deutschland den Namen Franz Kafka in Vergessenheit geraten. Erst 1950, mit Erscheinen der zweiten Gesamtausgabe, gleichfalls von Brod editiert, taucht auch hier der "Prager Deutsche" aus der erzwungenen literarischen Versenkung wieder auf, um heute als "ein Dichter auch unserer Generation" zu gelten, der nun einen festen Platz unter den weltgültigen Klassikern hat.
Eine Gedenktafel am Haus in der Grunewaldstraße 13, die aus Anlaß seines 30. Todestages von der Notgemeinschaft der Deutschen Kunst gestiftet und vom Berliner Bildhauer Rolf Szymanski geschaffen wurde, sowie eine Straße in Spandau, die den Namen des Dichters trägt, sind die letzten Zeugen seines Aufenthaltes in dieser Stadt. Zum Schluß ist zu vermerken, daß der diesjährige Todestag des Dichters nur sehr geringe Aufmerksamkeit in der hiesigen Presse fand.

Benutzte Literatur:
Paul E. H. Lüth: Literatur als Geschichte (Band 2). Wiesbaden: Lirnes-Verlag 1947.
Klaus Wagenbach: Kafka. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1974 ("rowohlts monographien", Bd. 91).
Johann Jakob Hässlin (Hrsg.): Berlin. München: Prestel Verlag 1971.
Johann Bauer, Isidor Pollak: Kafka in Prag. Stuttgart: Chr. Belser Verlag 1971.
Franz Kafka. Katalog der Ausstellung der Akademie der Künste anläßlich ihres Franz-Kafka-Colloquiums. Berlin 1966.

Aus: "Mitteilungen" 3/1974

Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde unverändert übernommen.
Gerhild H. M. Komander 10/2004