Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges
Von Wanda Kampmann

5. Moses Mendelssohn und die Berliner Aufklärung
Moses Mendelssohn und sein Freundeskreis

Wir haben es hier mit einer Epoche der jüdisch-deutschen Geschichte zu tun, die um 1750 beginnt, im preußischen Emanzipationsedikt von1812 gipfelt und im Wiener Kongreß, der den Umschwung bereits deutlich macht, ihr Ende findet. Während eines halben Jahrhunderts wird das jüdische Problem in all seinen Verzweigungen diskutiert, jetzt aber auf beiden Seiten, denn die Juden nehmen seit Moses Mendelssohn an diesem Gespräch teil. Das war bisher nur in theologischen Disputationen, in den Streitgesprächen zwischen Ekklesia und Synagoge, geschehen, die während des ganzen Mittelalters stattfanden. Auch gegen antijüdische Schmähschriften hatten Rabbiner gelegentlich, die talmudische Lehre erläuternd und verteidigend, das Wort ergriffen.

Eine solche Apologie des Judentums, die Vindicae Judaeorum des Manasse ben Israel von 1656 ließ Mendelssohn noch 1782 in Berlin als Rettung der Juden neu herausgeben und versah sie mit einer Vorrede , die allerdings den Wandel der Zeiten deutlich macht. Während im 17. Jahrhundert noch die abergläubischen Verdächtigungen des Volkes und die feindseligen Behauptungen der Geistlichen zu bekämpfen waren, geht es jetzt zum ersten Mal in der jüdischen Geschichte um das praktische Problem der bürgerlichen Aufnahme , um die rechtliche und staatsbürgerliche Emanzipation der Juden. Die Verfechter dieses Gedankens auf der jüdischen wie auf der christlichen Seite waren sich darüber klar, daß sie keine Apologie der Juden, sondern die Sache der Menschlichkeit im Auge hatten.

Wenn aber der Staat bereit war, vorerst unter Vorbehalten und mit pädagogischen Absichten, die jüdischen Einwohner als Bürger in die staatliche Ordnung einzugliedern, so erhob sich die nunmehr innerjüdische Frage nach dem Verhältnis von Assimilation und Bewahrung jüdischer Tradition. Das alles war zu diskutieren. Es geschieht fast gleichzeitig im österreichischen Beamtentum unter Joseph II., in der französischen Nationalversammlung und in Preußen im Kreise aufgeklärter Philosophen, Literaten und Juristen.

Alles, was man den Juden vorwirft , heißt es in der berühmten Schrift des preußischen Archivars und Kriegsrates Chr. W. von Dohm, ist durch die politische Verfassung, in der sie jetzt leben, bewirkt. Und: Das beste Mittel, den Besitzstand eines Vorurteils kräftig zu unterbrechen, ist, den Mitteln nachzuspüren, wie er erworben worden. Das ist eine radikale Änderung des Standpunktes und zugleich eine revolutionäre Kritik am Generalreglement Friedrichs d. Großen, die immerhin zu seinen Lebzeiten möglich war. Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden ist 1781 in Berlin erschienen; sie beeinflußt nicht nur die Gedanken der preußischen Reformer, sondern gibt auch die Richtlinien für die Emanzipation in den westeuropäischen Ländern an, vor allem in Frankreich.

Dohm gehörte zum Freundeskreis Moses Mendelssohns. Man kann die Wandlung im Verhältnis zum jüdischen Problem, die hier einsetzt, nur verständlich machen, wenn auf der anderen Seite der Durchbruch des Judentums in die europäische Bildungswelt, die geistige Emanzipation also, deutlich geworden ist, die sich mit der Gestalt Mendelssohns verknüpft. Statt den durch die Aufklärung verwandelten Bildungshorizont des späten 18. Jahrhunderts abzutasten, die philosophischen, pädagogischen, nationalökonomischen und literarischen Strömungen aufzuzählen, die auf die jüdische Situation ebenso stark einwirkten wie auf die Rechtslage des Dritten Standes, wollen wir von der einzigartigen Gestalt des jüdischen Philosophen ausgehen, in dessen Werk und Schicksal sich alle Linien schneiden.

Im allgemeinen historischen Bewußtsein lebt Mendelssohn als Freund Lessings und Urbild des Nathan, als Verfasser popular-philosophischer Schriften, die von den Zeitgenossen sehr hoch geschätzt wurden, aber unter der Wirkung von Herder und Kant schnell in Vergessenheit gerieten. Nur seine jüdische Leistung ist noch lebendig geblieben, sie gab den Anstoß zu einer Wandlung, die das jüdische Leben in seinem Grunde ergriffen hat.

Eine bewegende und imponierende Gestalt, niemand konnte sich ihrer Wirkung entziehen, klein, der Rücken gekrümmt vom Studium in frühester Jugend, der Blick strahlend und warm, geistige Schärfe und Sanftheit des Wesens vereinigend.

Die Sprache seiner philosophischen Schriften ist klar und fließend, erreicht oft die Schärfe und Eleganz der Lessingschen Diktion und schwillt an zu einem milden Pathos und zu beschwörenden Ernst, wo das Schicksal seiner Glaubensgenossen ihn hinreißt. Aber seine Anklage verletzt nicht, und sein Sinn für Gerechtigkeit ist so fein und scharf, daß er zum politischen Führer seines Volkes nie geeignet war, es auch niemals hat sein wollen. Er scheut die tragische Unausweichlichkeit und liebt die schwer errungene Harmonie.

So erstaunlich ist seine Erscheinung, die Judentum und Weltweisheit vereinigt, für die Zeitgenossen, daß schon früh die Legende an seinem Bilde formt. Für das jüdische Geschichtsbewußtsein, das in Mendelssohn den Anbruch einer neuen Zeit feiert, sind alle Stufen seines schlichten Lebens, alle Begegnungen, Erfolge und geistigen Auseinandersetzungen zu Sinnbildern geworden.

Das beginnt mit dem 14jährigen Sohn des Dessauer Thoraschreibers, der allein nach Berlin wandert, um dort zu lernen . Mit dem Bildungshunger von Jahrhunderten, so hat man gesagt, eignet er sich die Grundlagen der Wissenschaft seiner Zeit an. Ein polnischer Rabbi lehrt ihn die Mathematik aus einem hebräischen Euklid, bei zwei jüdischen Ärzten (nur das Medizinstudium war den Juden schon damals erlaubt) lernt er Lateinisch, Französisch und Englisch, mit jungen Leuten vom Joachimsthalschen Gymnasium disputiert er bald über philosophische Gegenstände und lernt dabei Deutsch.

Er schreibt hebräische Werke ab, hungert sich durch, wird Hauslehrer bei dem Seidenfabrikanten Isaak Bernhard, dann Buchhalter in seinem Geschäft. So traf ihn noch Lavater an bei einem Besuch im Jahre 1763. Den Juden Moses, den Verfasser der Philosophischen Gespräche und Briefe über die Empfindungen, fanden wir in seinem Comptoir mit Seide beschäftigt. Eine leutselige, leuchtende Seele im durchdringenden Auge und einer äsopischen Hülle ..., ein Mann von scharfen Einsichten, feinem Geschmack und ausgebreiteter Wissenschaft, ... vertraulich und offenherzig im Umgange ... Ein Bruder seiner Brüder, der Juden, gefällig und ehrerbietig gegen sie, auch von ihnen geliebt und verehrt.[1]

Es war die Freundschaft mit #Lessing gewesen, die den jungen Gelehrten, aber scheuen und von der geistigen Gesellschaft Berlins ausgeschlossenen Juden plötzlich in das philosophische Gespräch hineingezogen hatte. Zum Freundesbund gehörte auch der gewandte Buchhändler und Verleger Nicolai und der junge begabte Thomas Abbt, der damals Shaftesbury übersetzt und ihn zusammen mit einer Übersetzung Mendelssohns herausgeben möchte.

Ich bin begierig darauf, was unsere Theologen sagen werden , schreibt er an #Nicolai, wenn ein Lord, ein Kaufmann und ein Professor, ein Freigeist, ein Jude und ein Christ Hand in Hand erscheinen: Shaftesbury, Moses und Abbt.[2] Das ist keck und herausfordernd, ein Windstoß, der Vorurteile wegfegt, und das Thema kündigt sich an, das #Lessings Nathan zugrunde liegt, das Gespräch wird in diesem Kreise zur Denkform, ein Gespräch, an dem jeder teilnehmen kann, der sich von der dogmatischen Enge und der ständischen Gebundenheit befreit hat. Moses Mendelssohn war für den Freundeskreis auch deshalb so wichtig, weil seine Herkunft, sein Außenseitertum und sein ungewöhnlicher Bildungsgang am deutlichsten dartun konnten, daß das moralische Prinzip unabhängig von allen historischen Bedingtheiten ist, wenn es das Individuum von innen her bestimmt. An ihm schien sich ein Kernsatz der Aufklärung zu bestätigen.

#Lessing hatte sein Lustspiel Die Juden 1751, also schon drei Jahre vor der Bekanntschaft mit Mendelssohn, geschrieben: es war ein ungeschickter dramatischer Versuch, aber ein kühner Vorstoß gegen althergebrachte Vorstellungen, eine seiner ersten Rettungen . Denn hier tritt ein edler, gebildeter und selbstloser Jude auf, und die literarische Kritik, vor allem der Göttinger Orientalist Michaelis, erhebt sofort Protest: einen solchen Juden gebe es nicht.

Wenige Jahre später hatte Mendelssohn der literarischen Öffentlichkeit bewiesen, daß es ihn gab. Seine philosophisch-ästhetischen Schriften, vor allem aber der Phädon , das Gespräch über die Unsterblichkeit (1767), das eine Art Erbauungsbuch für das gebildete aufklärerische Bürgertum wird, erregen ein ungeheures Aufsehen. Der Phädon wird in fast alle europäischen Sprachen übersetzt, sein Verfasser der deutsche Sokrates genannt, die französische Ausgabe setzt noch Juif à Berlin auf das Titelblatt, um die Sensation zu erhöhen.

J. H. Voss versetzt ihn später sogar in die Reihe der Unsterblichen, nennt ihn zusammen mit Petrus, Moses, Konfuzius, Homer und Sokrates und rühmt ihn den Edlen Mendelssohn, der hätte den Göttlichen nimmer gekreuzigt ,[3] ein Nachsatz, der in seiner biedermännischen Selbstverständlichkeit die fatale Mischung von überschwenglicher Bewunderung dieses einzelnen und treubewahrtem Vorurteil genau bezeichnet. Ein Lob, das beleidigt; Mendelssohn hat dergleichen manchmal zurückweisen müssen.

Daß er zugleich streng an den Gesetzen des Judentums festhielt, obwohl er sich mit seinen philosophischen Freunden so deutlich zum ethischen Universalismus der Vernunftreligion bekannt hatte, erfuhr die Öffentlichkeit erst durch Lavaters Bekehrungsversuch. Es war eine plumpe und wohlgemeinte öffentliche Aufforderung, die Beweise des französischen Philosophen Bonnet für die Wahrheit des Christentums entweder zu widerlegen oder sich für den christlichen Glauben zu entscheiden. Wohlgemeint, weil Lavater glaubte, es bedürfe bei Mendelssohn nur noch eines kleinen Schrittes, sich überzeugen zu lassen, aber zudringlich und taktlos, weil er ihn damit auf den Kampfplatz der öffentlichen religiösen Auseinandersetzung forderte, die Mendelssohn aus seiner innersten Natur heraus ablehnen mußte.

Sein offener Brief an Lavater ist so klug wie überlegen und von klarster Entschiedenheit. Ich begreife nicht, was mich an eine, dem Ansehen nach so überstrenge, so allgemein verachtete Religion fesseln könnte, wenn ich nicht im Herzen von ihrer Wahrheit überzeugt wäre , heißt es da. Und an anderer Stelle: Man muß gewisse Untersuchungen irgendeinmal in seinem Leben beendiget haben, um weiterzugehen. Auch verbiete es ihm die gedrückte Lage seines Volkes, das vom Wohlwollen der herrschenden Nation abhängig sei, Religionsstreitigkeiten öffentlich auszufechten und die Duldung aufs Spiel zu setzten, die man ihm in Preußen gewähre. Ist es doch nach den Gesetzen Ihrer Vaterlande , so fährt er fort, Ihrem beschnittenen Freunde nicht einmal vergönnt, Sie in Zürich zu besuchen![4]

Diese Auseinandersetzung erregt das geistige Deutschland, und allgemein wird Lavater getadelt, der Mann, der über den ehrlichen, ruhigen, dienstfertigen, stillen Weltweisen Mendelssohn herpoltert, um ihn zu bekehren, da doch Mendelssohn ihn unbekehrt ließ,[5] so Lichtenberg, der kein Freund der Juden war, da er ihre Religion nur für ein abgeschmacktes Zeremoniell hielt. Aber Lichtenberg spricht hier aus, was die gebildete Öffentlichkeit damals von Bekehrungsversuchen hielt.

Mendelssohn wurde 1771 von der Akademie der Wissenschaften in Berlin zu ihrem Mitglied gewählt, eine hohe Auszeichnung und ein Akt geistiger Freiheit und Vorurteilslosigkeit, der in seiner Wirkung nicht dadurch abgeschwächt wurde, daß der König seine Unterschrift versagte.* Man hatte den Schüler von Leibniz, Locke und Wolff, den Philosophen, der europäischen Ruhm erlangt hatte, unbeschadet seines jüdischen Glaubens in die Gelehrtenrepublik aufgenommen. Die Folgen für das Judentum waren unabsehbar. Noch hundert Jahre später feiert man #Mendelssohns Leistung damit, daß man ihn als den zweiten Moses bezeichnet, der sein Volk aus der Sklaverei geführt und es von den Fesseln des Wahns und Aberglaubens befreit habe, daß er zuerst die schier undurchdringliche Mauer durchbrochen habe, die Christen und Juden in Deutschland schied .[6]

Anmerkungen
1. B. Bervin: Moses Mendelssohn im Urteil seiner Zeitgenossen (= Kantstudien Nr. 49), Berlin 1919, S. 44.
2. Bervin: Abbt an Nicolai, 9. Febr. 1762. S. 25.
3. F. Bamberger: Die geistige Gestalt Moses Mendelssohns (= Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums Nr. 36), Frankfurt am Main 1929, S. 5.
4. M. Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Leipzig 1843, III, S. 41 f. 47.
5. Bervin, S. 48.
* Anmerkung der Redaktion: Diese Darstellung entspricht nicht den neueren Forschungsergebnissen. Tatsächlich erschien Moses Mendelssohn nicht auf der Vorschlagsliste, die dem König zur Unterschrift vorgelegt wurde.
6. Lessing-Mendelssohn-Gedenkbuch. Zur 150. Geburtstagsfeier von Lessing und Mendelssohn, Leipzig 1879, S. 131, 17.

Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum
Es bedeutet eine Epoche in der jüdischen Geistesgeschichte, daß Mendelssohn den Vernunftglauben der Aufklärung mit der jüdischen Gesetzesreligion zu vereinigen wußte, daß er sein Judentum in der philosophischen Sprache seiner Zeit zu deuten unternahm. In seiner Abhandlung "Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum" (1783) unterscheidet er zwischen dem geistigen Gehalt der jüdischen Religion und dem Judentum als einem Inbegriff bestimmter Gebote und schriftlich fixierter Gesetze.[7]

Die religiöse Grundüberzeugung ruht auf den ewigen Wahrheiten, "die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargetan und bewährt werden können".[8] Sie sind dem Menschen nicht durch übernatürliche Offenbarung kundgetan und können nicht als Dogmen gelehrt, sondern nur dadurch verstanden und angeeignet werden, daß die fähig ist, sie aus sich selbst hervorzubringen und sie als notwendig einzusehen. Gott lehrt sie durch die Schöpfung selbst, die für alle Menschen leserlich und verständlich ist; er bestätigt sie nicht durch Wunder, sondern er erweckt den Geist im Menschen, der beobachtet und sich von Wahrheiten überzeugen kann.

Auf Offenbarung dagegen beruhen die Gesetze und Lebensregeln des jüdischen Volkes, sie gehen auf ein einmaliges geschichtliches Ereignis - die Gesetzesverkündigung auf dem Sinai - zurück und sind einem einzigen Volk für alle Zeiten gegeben. Sie sind das verpflichtende Grundgesetz seiner religiösen und nationalen Existenz. Wenn die Vernunftwahrheit die universalistische Richtung des jüdischen Glaubens bezeichnet - den ethischen Rationalismus, wie ihn #Lessings Nathan verkündet - so gibt ihm die Gesetzesoffenbarung seine nationale Grundlage.

Die absondernde Wirkung der Zeremonialgesetze erkennt Mendelssohn wohl, aber sie ist für ihn ein vorbedachtes Mittel, das die Verschmelzung des Judentums mit der Umwelt verhindern soll.[9] Dieses Gesetz, von dem er zugibt, daß es später durch Mißverständnisse und rabbinische Spitzfindigkeit ausgeartet sei, bleibt doch die Essenz des Judentums; es gilt unverbrüchlich, nur eine neue göttliche Offenbarung könnte es ändern. Und mit deutlicher Anspielung auf die geplanten Reformen und Erziehungsmaßnahmen Josephs II. sagt er: "Wenn die bürgerliche Vereinigung (Emanzipation) unter keiner anderen Bedingung zu erhalten ist, als wenn wir von dem Gesetze abweichen, ... so müssen wir lieber auf bürgerliche Vereinigung Verzicht tun."

Es folgt die Bitte an die Nationen und die Mächtigen der Erde: "Betrachtet uns, wo nicht als Brüder und Mitbürger, doch wenigstens als Mitmenschen und Miteinwohner des Landes. Zeiget uns Wege und gebet uns Mittel an die Hand, wie wir bessere Miteinwohner werden können, und lasset uns die Rechte der Menschheit mit genießen. Von dem Gesetze können wir mit gutem Gewissen nicht weichen, und was nützen Euch Mitbürger ohne Gewissen?"[10] Das Recht der Menschheit war für Mendelssohn vor allem "zu sprechen, wie man denkt, und Gott anzurufen in der Väter Weise." Diese Stimme war damals unüberhörbar, und sie wurde gehört. Mirabeau beschwört sie noch vor der französischen Nationalversammlung.

Aber zeigt Mendelssohn wirklich den Weg zur Lösung der Emanzipationsprobleme? Seine Philosophie des Judentums ist vieldeutig. Was er persönlich zu vereinigen wußte, die Vernunftreligion und die Gesetzestreue, das erweist sich später als so schwer vereinbar wie die Assimilation und die Bewahrung der alten jüdischen Lebensordnung. Wenn er seinen Glaubensgenossen rät, sich in die Verfassung eines jeden Landes zu schicken und zugleich streng nach jüdischen Gesetzen zu leben, so war das zwar individuell möglich, aber für eine jüdische Gemeinschaft - und das jüdische Religionsgesetz verlangt das Gemeindeleben - erhoben sich in dem damals entstehenden National- und Militärstaat lauter ungelöste Frage.

Auch die Gleichsetzung des Religiösen mit dem Sittlichen konnte man von Mendelssohn herleiten, und da führt der Weg in das liberale Kulturjudentum des 19. Jahrhunderts, in dem die religiöse Tradition abreißt. Die 200-Jahrfeier von Mendelssohns Geburtstag im Jahre 1929 stand bereits unter anderen Vorzeichen als das Jubiläum im Bismarckreich. Man feierte ihn nun nicht mehr als den Befreier und Führer in das Gelobte Land (der staatsbürgerlichen und kulturellen Gleichheit), sondern erinnert sich ehrfürchtig an ihn, der zuerst die neue Bindung vollzog, die jeder Generation eine stets neu zu lösende Aufgabe auf die Schultern legt. Franz Rosenzweig nennt Mendelssohn damals den "ersten deutschen Juden, in dem schweren, beide Wort verantwortenden Sinn, in dem wir Deutschjuden unser Deutschjudentum nehmen."[11]

7 Ernst Cassirer, Die Philosophie M. Mendelssohns. In: M. Mendelssohn zur 200jährigen Wiederkehr seines Geburtstages. Berlin 1929, S. 66.
8 Ges. Schriften, III, 311.
9 Vgl. hierzu Max Wiener, M. Mendelssohn und die religiösen Gestaltungen des deutschen Judentums im 19. Jh., ZGJD, I, 1929, S. 201-212.
10 Ges. Schriften, III, 358.
11 Vorspruch zu einer Mendelssohn-Feier. Der Morgen, V, 1929, S. 374.

Christian Wilhelm Dohm
Als Mendelssohn seine Bekenntnisschrift Jerusalem verfaßte, lag die erste Ausgabe des Buches Über die bürgerliche Verbesserung der Juden seines Freundes Chr[istian] W[ilhelm] Dohm ihm bereits vor. Er hatte selber den Anlaß dazu gegeben; denn als die schwerbedrängten elsässischen Juden ihm ihre Denkschrift zuschickten, bat er Dohm, sie für den französischen Staatsrat in die rechte Form zu bringen. Dohm ergriff die Gelegenheit, das jüdische Problem staatsrechtlich, philosophisch und geschichtlich zu bearbeiten, er tat es gründlicher und unvoreingenommener, als das bis jetzt geschehen war.

Dabei haben Montesquieu und Rousseau auf ihn gewirkt, auch die Lehre der Physiokraten, er hat Turgots gescheiterte Reform genau beobachtet, er beruft sich auf Adam Smith, er kennt die Parolen der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und bewundert das im Entstehen begriffene Staatswesen, das seine Bürger nicht nach Religion und Herkunft fragt. Er ist überzeugt, daß einander verfolgende Religionssysteme die natürlichen Bande der Menschheit zerreißen und daß es die hohe Aufgabe des Staates sei, statt Abneigung und Vorurteil unter seinen Bürgern den Wetteifer und die freie Tätigkeit zu fördern.

Dohm spricht keine neuen Gedanken aus, aber er wendet die Grundsätze der europäischen Aufklärung konsequent auf das jüdische Problem an, das bisher unbeachtet geblieben war. Er beginnt also mit einer freimütigen Darstellung ihrer gegenwärtigen Situation, der mannigfaltigen Beschränkungen ihrer Lebens- und Erwerbsbedingungen, der Eingriffe in ihr Familienleben (Heiratsalter, Ansetzung des 2. Kindes), ihres Ausschlusses von Handwerk und Ackerbau, von der Erziehung auf Schulen und Universitäten, der kleinlichen und raffinierten Besteuerung und Nutzbarmachung.

Und warum das alles? Weil man behauptet, ihr schädlicher Charakter mache solche Behandlung notwendig! Man verwechselt hier aber die Ursache mit der Wirkung. Der Nationalcharakter eines Volkes, so lehrt der Schüler Montesquieus, ist keine feste Größe, sondern von vielen veränderlichen Bedingungen, vor allem von der politischen Verfassung abhängig. Die jetzige Judenpolitik aber ist in Deutschland ein Überbleibsel mittelalterlicher Barbarei. Und nun gibt
Dohm einen Überblick über die jüdische Exilgeschichte seit der römischen Kaiserzeit, der auf dem Studium der Rechtsurkunden beruht.

Er erkennt die wirtschaftlichen Motive, den Brotneid der Kleinen und die Gewinnsucht der Großen, er schildert den Schacher der Fürsten mit dem Judenprivileg, die räuberische Erpressung durch die Könige bei den Vertreibungen aus England und Frankreich, die gefahrvolle Funktion der polnischen Judenheit in dem Pachtsystem des polnischen Adels, und er schließt mit den falschen Quittungen, die die elsässischen Bauern zu einer Revolte gegen ihre jüdischen Gläubiger anstiften sollten, eine Aktion, die Anlaß zu seiner Untersuchung wurde. Es ist das Schuldkonto der Jahrhunderte, das er vor seinen Lesern aufrollt. Überall in der Welt wird, so schließt er, ihre Tugend bezweifelt und getötet, ihr Laster genährt, notwendig gemacht und bestraft.[12]

Und nun seine Reformvorschläge, die auf den Anwalt der Juden vor der französischen Nationalversammlung, den Abbé Grégoire, und auf Mirabeau ebenso eingewirkt haben wie auf das preußische Beamtentum, das das Hardenbergsche Edikt von 1812 vorbereitet. Dohm fordert zuerst die uneingeschränkte bürgerliche Gleichberechtigung, d. h. die Abschaffung aller Ausnahmegesetze: der Aufenthaltsbeschränkungen, der Sondersteuern, der solidarischen Haftung, der Berufsbeschränkungen, aber auch der Handelsprivilegien merkantilistischer Prägung. Er fordert die Zulassung zu jedem Handwerk, das Recht auf freien Grundbesitz und bäuerliche Arbeit, die Aufhebung geschlossener Siedlungsgebiete (Ghetto, Ansiedlungsrayons im Osten). Die Juden sollen Schulen und Akademien besuchen können.

Und da Bürgerrechte und Bürgerpflichten eng zusammenhängen, sollen sie zum Heeresdienst verpflichtet sein. An einem Punkt glaubt Dohm das Prinzip der freien wirtschaftlichen Betätigung durchbrechen zu müssen: als Übergangs- und Erziehungsmaßnahme schlägt er vor, die Juden zum Handwerk zu ermuntern (durch staatliche Erleichterungen und Verordnungen) und sie damit allmählich von ihrem traditionellen Gewerbe, dem Hausierhandel und Geldgeschäft, abzubringen.

Das Buch ruft sogleich die Gegner der Emanzipation auf den Plan, aber auch die reformfreudigen Leser nehmen Stellung.
Die zweite Ausgabe von 1783 enthält eine Reihe solcher Zuschriften, die Dohm zu ausführlicher Begründung seiner Thesen und wie das so zu gehen pflegt zu konsequentem Ausblick in die Zukunft veranlassen. Werden die Juden um der bürgerlichen Gleichstellung willen nicht die lästigen Zeremonialgesetze abtun? Und werden sie dann nicht aufhören, eigentliche Juden zu sein? Mögen sie doch! antwortet der Verfasser. Was kümmert dieses den Staat, der nicht weiter von ihnen verlangt, als daß sie gute Bürger werden, sie mögen es übrigens mit ihren Religionsmeinungen halten, wie sie wollen. Hätte man sie schon vor Jahrhunderten in die bürgerliche Gesellschaft aufgenommen, so wäre ihr Judentum längst in Vergessenheit geraten. Politische oder religiöse Schwärmerei und Anhänglichkeit werden nur durch Verfolgung verewigt , Gleichgültigkeit, Duldung und Unaufmerksamkeit sind ihr sicherster Tod.[13] Das hätte auch #Friedrich d. Gr. sagen können.

Andere Kritiker befürchten, die Juden würden niemals loyale Staatsbürger werden, daran hindere sie gerade ihre zähe Anhänglichkeit an das talmudische Gesetz, ihre Messiaserwartung oder die Verderbtheit ihrer Sitten, jedenfalls habe man es mit einem konstanten Volkscharakter zu tun, der seine Minderwertigkeit schon in den ältesten Zeiten bewiesen habe. Wie gut, daß unsere eigene Frühgeschichte im Dunkel germanischer Wälder verborgen geblieben sei, antwortet Dohm, man könne uns sonst die barbarischen Sitten unserer Vorfahren heute noch vorwerfen. Man befreie die Juden von ihren Fesseln, und sie werden den großmütigen und gerechten Staat bald mehr lieben als ihre Religion.

Das ist klar und scharf gesehen und scheint die Entwicklung anzukünden, die der Assimilationsprozeß notwendigerweise nehmen wird. Es ist viel Wahrheit darin, nur nicht die ganze Wahrheit, die #Dohm nicht sehen konnte, weil dem Rationalisten das Wesen des Judentums fremd geblieben war. Aber das Gespräch, das hier angedeutet wurde, enthält im Kern schon die jüdische Problematik des 19. Jahrhunderts.

12 Chr. W. Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Neue verbesserte Auflage, 1783. I, 91.
13 Dohm, II, 174, 177.

Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1979 (Die Originalausgabe erschien 1963 im Verlag Lambert Schneider). S. 98 - 105.
Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Inhaberin der Rechte.

Redaktion: Gerhild H. M. Komander 12/2003