Walter Höllerer oder: Die Produktivkraft des Kulturellen
Zum 90. Geburtstag (19.12.2012) und 10. Todestag (20.05.2013)

Walter Höllerer war ein Glücksfall für West-Berlin. Ihm gelang, was in der tristen Nachkriegszeit auf ewig verloren schien. Er gab der 3-Sektoren-Stadt etwas vom Flair der einstigen Kulturmetropole zurück, als er 1961/62 eine spektakuläre Lesereihe „Literatur im technischen Zeitalter" initiierte. In der Kongresshalle am Rande des Tiergartens lasen nicht nur Ingeborg Bachmann, Heimito von Doderer, John Dos Passos, Henry Miller, Natalie Sarraut, Michel Butor, Salvatore Quasimodo und weitere bedeutende Gegenwartsautoren, sondern – und das war die zweite außergewöhnliche Tat – das Fernsehen des SFB strahlte diese Kulturhighlights ungekürzt aus. Mit Hilfe dieses neuen Mediums trug Höllerer zur Verbreitung der als schwierig geltenden modernen Literatur bei. Die Presse war von dieser neuen Literaturpräsentation irritiert, aber das TV-Publikum war begeistert. Seit 1963 institutionalisierte er diese Lesungen im "Literarische Colloquium Berlin". So schuf er eine für Berlin kaum zu überschätzende Institution zur Beförderung der künstlerische Avantgarde in Literatur, Theater und Film. Im Kulturellen wirkte Walter Höllerer als genialer Anreger, als medienversierter Vermittler und sensibler Pädagoge.

Höllerer, der am 19.12.1922 in Sulzbach-Rosenberg/Oberpfalz geboren wurde, machte 1942 in Amberg sein Abitur und wurde sofort zur Wehrmacht eingezogen. Er erlebte den Krieg in Südosteuropa. Im besetzten Griechenland wurde er Zeuge von Massenerschießungen von Zivilisten durch Wehrmachtssoldaten. Es war die Poesie, die ihm half, diese Traumata zu verarbeiten.

Nach 1945 studierte Höllerer in Erlangen, Göttingen und Heidelberg zunächst Theologie, später Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft. 1949 promovierte er mit einer Arbeit über Gottfried Keller. Sein erster Gedichtband „Der andere Gast" erschien 1952 und zeichnete sich durch einen neuartigen Lyrikton aus. Seit 1954 gehörte er zur „Gruppe 47". Nach dem Zeugnis von Marcel Reich-Ranicki äußerte sich Höllerer hier vor allem über Lyrik. Was er sagte - so Reich-Ranicki - zeugte von umfassender Kenntnis der neuen Poesie und von seinem sich immer wieder bewährenden Gespür für neue Talente.

Höllerer bleib der Lyrik und der Literaturwissenschaft treu. Die 1956 erschienene Anthologie „Transit" ließ bereits durch den Titel erkennen, was seine Intentionen waren: Ausbruch aus dem Traditionellen, Aufbruch zu Neuem und riskante Grenzüberschreitungen. Bald machte er, inzwischen Dozent an der Universität Frankfurt a. M. geworden, Theodor W. Adorno Konkurrenz in der Beliebtheit bei den Studierenden. Auch Höllerers Habilitationsschrift „Zwischen Klassik und Moderne" (1958) wirkte programmatisch. Im Gegensatz zu einer altbacken gewordenen, textimmanenten, ahistorischen und oft idealisierenden Klassiker-Interpretation orientierte sich Höllerer an den Erfahrungen von Gespaltenheit, Geworfenheit und Unbehaustheit, wie sie die literarische Moderne formulierte.

Voller Enthusiasmus nimmt Höllerer im Jahre 1959 den Ruf der Technischen Universität Berlin an und wird Professor für Literaturwissenschaft an der dortigen Humanistischen Fakultät. Moderne Technik und moderne Poesie waren für ihn keine Antipoden. Im Gegenteil! Seine Antrittsvorlesung „Literatur im technischen Zeitalter" kündigte einen Paradigmenwechsel an. Moderne Lyrik könne sich nicht von einer vermeintlichen Dämonie der Technik separieren. Die Sprache der Literatur habe sich mit der Alltagssprache und der „Sprache des Kalküls" - den formalisierten Codes von Naturwissenschaft und Technik - auseinanderzusetzen. So begann das „Höllerer-Experiment", wie es sein Schüler Norbert Miller nannte. Drei bedeutende Projekte, die weit über die Grenzen Berlins hinaus Aufmerksamkeit erzeugten und Wirkung zeitigten, hat Höllerer in den folgenden Jahren initiiert: die Gründung des TU-Institut „Sprache im technischen Zeitalter", die Herausgabe von und die Autorenschaft an der gleichnamigen Zeitschrift, die bis heute existiert und die Etablierung jener oben schon erwähnten internationalen Lesereihe zunächst in der Kongresshalle. Aus ihr ging 1963 das legendäre „Literarische Colloquium Berlin" hervor. Plötzlich – dank Höllerer – standen die TU Berlin und die City West im Brennpunkt des internationalen kulturellen Interesses. Die junge Generation der 1960er Jahre war von Höllerer begeistert, weil er sich mit der zeitgenössischen amerikanischen Lyrik befasste, die durch die Popmusik jener Zeit – etwa Bob Dylan – große Popularität erlangt hatte.

Ohne Zweifel half Höllerer, jenen demokratischen Mentalitätswandel vorzubereiten, der durch die Studentenrevolte 1967/68 beschleunigt, und schließlich unter der Lösung „Mehr Demokratie wagen" im Reformwerk der Regierung Brandt/Scheel seinen Durchbruch erlebte.

Was lehrt uns Walter Höllerer? Er verstand es meisterhaft, die Medien für die Verbreitung moderner Lyrik, Musik und Kinematografie in Dienst zu nehmen, ohne sich deren Gesetz zu unterwerfen. Man nannte ihn einen „Zirkusdirektor", aber Höllerer ließ nicht die Medienmanager und Programmdirektoren, sondern die Literaten, Musiker und Filmemacher die erste Geige spielen. Er hat nicht durch die „Quote", sondern mit Qualität, die das Publikum begeistert, überzeugt. Das macht seine bleibende Aktualität aus.

Noch einmal, 1990, machte Höllerer von sich reden. Er gehörte zu den Gründern der „Deutschen Gesellschaft", die den Prozess der deutsch-deutschen Einigung kritisch begleiten und befördern sollte. Liest man die von ihm verfasste Schrift „Getrenntes will sich finden", so fällt wieder sein politische Parolen transzendierender realistischer Blick auf. Gegen das Ideologem, im Osten müsse sich alles ändern, im Westen nichts, verwies Höllerer auf die Komplexität der historischen Aufgabe. So schrieb er: „Die gegenseitige Achtung und die Selbstachtung der Einwohner von beiden deutschen Staaten verlangt es, dass wir nicht so tun, als seien die einen nur die Geber und die anderen ausschließlich die Nehmenden. Dass es nicht so ist, ist schon daran zu erkennen, dass der östliche Teil dem westlichen die Signale und die Chance gegeben hat für einen Ruck in Richtung demokratischer Aufbruch und für Mauerrisse: In den fünfundvierzig Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben sich auch im Westen Strukturen und Positionen verfestigt. Die Mauern innerhalb der Hierarchien sind mehr und mehr veraltet. Ebenso die Trennwände zwischen männlich und weiblich, zwischen Ansässigen und Hinzugekommenen. Auch in westlichen Teil meldeten sich gegen Ende der achtziger Jahre die Vorstellung der Jüngeren von einem sinnvollen Leben gegen die Befürworter überholter Apparaturen und Denkweisen zu Wort."

Walter Höllerer starb am 20. Mai 2003 in Berlin. Er fand sein letzte Ruhe auf dem Städtischen Friedhof Heerstraße in Charlottenburg-Wilmersdorf.

Höllerers Wirken und Werk sind noch immer bedeutungsvoll. Die TU Berlin veranstaltete 2012 ein Symposium zum Thema „Technik und Poetik", das seinem Erbe gewidmet war. Zugleich gibt es an der TU einmal im Jahr die „Höllerer-Vorlesung". Sie wird von der Gesellschaft von Freunden der TU veranstaltete und bietet international bekannten Wissenschaftlern oder Literaten die Möglichkeit, eine Vorlesung zu bedeutsamen Gegenwarts- und Zukunftsthemen zu halten.

Hans Christian Förster, Februar 2013