„Alles Große, was dasteht, steht als ein Trotzdem da": Zur Geschichte der Physikalisch-Technische Reichs- bzw. Bundesanstalt (PTR, PTB) anlässlich ihres 125. Jubiläums

Von Hans Christian Förster, Berlin im September 2012

Präzision braucht Ausdauer - besonders Ausdauer! Es ist einer Handvoll Berliner Wissenschaftler und Unternehmer zu danken, dass, nach 15-jährigen Ringen gegen eine Übermacht von Neinsagern, der Reichstag das Geld für die Gründung der Physikalisch Technischen Reichsanstalt bewilligte.

Schon 1872 forderte Karl Schellbach in einer Denkschrift ein Institut, das sich mit der Verbesserung der Präzisionstechnik befassen sollte. Auch der Berliner Astronom Wilhelm Foerster unterstützte diese Forderung. Aber erst das hartnäckige Engagement des Unternehmers und Forschers, Werner Siemens, überwand den Widerstand der konzertierten Aktion der Gegner und erreichte, auch durch die großzügige Schenkung des Terrains an der Marchstraße, dass eine neuartige Großforschungsanstalt errichtet werden konnte.

Diese neue Forschungsanstalt erlangte schon wenige Jahre nach ihrer Gründung einen Weltruf und wurde Vorbild für andere Industriestaaten. Es waren, wie gesagt, nur ein paar, aber weitblickende Persönlichkeiten, die sich für dieses Projekt einsetzten, das wesentlich daran beteiligt war, dass um die Jahrhundertwende Deutschland mit seinen Schlüsseltechnologien und mit exzellenten Forschungsergebnissen, besonders in der Physik, zu den global führenden Industriestaaten gehörte.

Zu den damaligen Gegnern gehörten u.a. die Nationalliberalen, die sich, weltfremd prinzipengläubig, gegen eine weitere vom Staat geförderte Forschungsinstitution wehrten. Wissenschaftspolitiker bemängelten die „Befreiung" der Reichsanstalt von Lehrverpflichtungen. Berufsverbände malten das Gespenst neuer Kontrollwütigkeit an die Wand und vieles mehr.
Dennoch beschloss im März 1887, in dritter Lesung, der Deutsche Reichstag mit den Stimmen der Sozialdemokraten, die damals noch unter dem, in seltsamer Koalition von Bismarck und den Liberalen beschlossenen, Sozialistengesetz standen, den Etat für die neue Reichsanstalt. Rudolf Virchow, Vertreter des Berliner Freisinns, war nicht nur neben Hermann Helmholtz, Wilhelm Foerster und anderen einer der engagierten Projektbefürwortern, sondern er erklärte im Reichstags-Plenum auch, dass das „Ja" für die Reichsanstalt „eine Nationalbelohnung" für Siemens sei.

Die PTR war ein Institut neuen Typs: eine metrologische und naturwissenschaftliche Forschungsanstalt ohne Lehrverpflichtung. Sie fand ihre Heimstatt auf dem besagten 19.800 qm großen Grundstück, das Siemens zur Verfügung gestellt hatte. Auf diesem Campus, unweit des Technischen Hochschule Berlin, entstanden zwischen 1887 und 1896 nach Plänen von Paul Spieker und Theodor Astfalck zehn Gebäude, fünf für die Physikalische und fünf für die Technische Abteilung. Hermann Helmholtz, der zu jener Zeit als bedeutendster deutscher Physiker galt, wurde ihr erster Präsident. Er bekam eine Dienstvilla auf dem Campus. Zu den originellsten Bauten aber gehörte das „Observatorium", ein Solitär der 1891 von Astfalck mit beratender Unterstützung von Helmholtz fertiggestellt wurde.

Von Anfang an wurde er als wissenschaftliches Forschungslaboratorium geplant und gebaut. Er gewährleistete ideale Experimentierbedingungen. Am 17. Oktober 1887 nahm die Reichsanstalt - zunächst im Westflügel der Technischen Hochschule - bis zur Fertigstellung der Anlagen an der Marchstraße die Arbeit auf. Später waren bedeutende Professoren der Berliner Technischen Hochschule – wie Heinrich Rubens oder Ferdinand Kurlbaum – als „Gastwissenschaftler" zu Experimentierzwecken an der PTR tätig. Zu den Zielen der Reichsanstalt gehörten:

  1. Die Förderung der Präzisionsmechanik und anderer Zweige der Technik,
  2. Beglaubigung von Mess- und Regelgeräten,
  3. für den Staat Mess- und andere Geräte herzustellen, die die Privatindustrie nicht liefern kann,
  4. Geräteteile für die Industrie zu bauen, wenn die Industrie dazu nicht in der Lage ist. An der PTR wurde Grundlagenforschung und die Metrologie, die Wissenschaft vom hochpräzisen Messen, etabliert. Wichtigste Tätigkeit war die Darstellung der physikalischen Grundeinheiten durch geeignete Normale. Damit erwarb sich die Reichsanstalt weltweit einen exzellenten Ruf. Sie wurde eine Erfolgsgeschichte und hatte damit einen großen Anteil an der globalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wissenschaft und Industrie. Einen wichtigen Beitrag lieferte das PTR-Laboratorium für Optik. Zunächst suchten die Wissenschaftler ein präzises Lichtstärkenormal, um eine ganz praktische Frage zu entscheiden, ob Elektrizität oder Gas die wirtschaftlichere Energieform für die Straßenbeleuchtung Berlins sei.

Diese Messungen führten zur exakten Bestimmung des Spektrums der Schwarzkörperstrahlung. Das war essentiell für Max Plancks „Strahlungsformel" und führte zur Geburtsstunde der Quantentheorie um 1900, die die radikalen Umwälzung der klassischen Physik führte. Der Theoretische Physiker Albert Einstein, der u.a. neben andern bedeutenden Wissenschaftlern wie Max Planck, Emil Warburg, Friedrich Kohlrausch und Ernst Abbé zu den beratenden Kuratoriumsmitgliedern der PTR gehörte, führte 1915 zusammen mit Wander Johannes de Haas in der Reichsanstalt eines der wenigen Experimente seiner Laufbahn durch, das zum makroskopischen Nachweis des Drehimpulses von Elektronen führte.

Unter dem Präsidenten Emil Warburg öffnete sich die PTR neuen Fragestellungen, die mit Quantenphysik, Relativitätstheorie und Atomphysik verbunden waren. So entstand das erste Labor für Radioaktivität, das von Hans Geiger geleitet wurde. Weitere Erfolge waren die Heliumverflüssigung und die Entdeckung der Supraleitfähigkeit bestimmter Metalle. Walther Meißner und Robert Ochsenfeld entdeckten den nach ihnen benannten Effet der Magnetfeldveränderung in Supraleitern. Das in jener Zeit ausprägte Aufgabenprofil bestimmt auch heute noch die Arbeit der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB): moderne Grundlagenforschung und darauf aufbauend Dienstleistungen für die Einheitlichkeit des Messwesens und seiner Weiterentwicklung, um Wissenschaft, Wirtschaft, Staat und Bürgergesellschaft zu dienen. Mit der NS-Herrschaft begann ein dunkles Kapitel. Protagonisten der „Deutschen Physik", wie der PTR-Präsident Johannes Stark, trugen dazu bei, dass bedeutende Wissenschaftler Deutschland verließen, andere, die von der Richtigkeit der Relativitätstheorie überzeugt waren, als „weiße Juden" diskriminiert wurden. Am Ende des 2. Weltkrieges waren viele Gebäude der PTR zerstört, Instrumente und Ausrüstung nach Thüringen ausgelagert. 1948 wurde auf Betreiben von Max von Laue die PTB in Braunschweig gegründet. Auf dem traditionsreichen Berliner Campus bestand die PTR fort und wurde 1953 als „Institut Berlin" in die PTB integriert. Mit dem 21. Jahrhundert sind die Aufgaben noch vielfältiger geworden und ohne Grundlagenforschung auf höchstem Niveau nicht zu erfüllen. Die PTB Braunschweig und Berlin ist nicht zuletzt wegen ihrer hochwertigen Präzisionsmesstechnikern ein weltweit geschätzter Partner.

Pünktlich zum Jubiläum der PTB) erscheint im Oktober ein bemerkenswertes Buch: Wolfgang Schäche, Brigitte Jacob, Norbert Szymanski: Bauten für die Wissenschaft. Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt / Bundesanstalt in Berlin-Charlottenburg 1887-2012. Berlin: Jovis-Verlag, 2012. Die Autoren rekonstruieren in der reich illustrierten Publikation die historische Entwicklung des Geländes an der Charlottenburger Marchstraße von der einstigen Siemensvilla mit Tanzsaal zum Campus der 1887 gegründeten Physikalisch-technische Reichsanstalt, wie die PTB damals hieß.

Es berichtet über den Bau der Forschungslaboratorien, über gigantomanische in der NS-Zeit entworfene, aber unausgeführte Erweiterungspläne, über die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbau des Berliner Instituts, als Pendant zur in Braunschweig entstandenen neuen PTB. Last, not least informiert es über die kürzlich beendete denkmalpflegerische Sanierung des „Schatzkästleins" auf dem Campus, das von Theodor Astfalck 1891 fertiggestellte „Observatorium". Das Neue daran war, dass es das erste Gebäude war, das speziell als wissenschaftlicher Laboratoriumsbau errichtet wurde und in dem die Forscher ideale Versuchsbedingungen vorfinden sollten. Um Erschütterungen zu minimieren, wurde es auf einem 2 Meter dicken und 1000 qm großen Betonsockel errichtet. Die Doppelwandung garantiert ein Höchstmaß an Temperaturkonstanz. Es verfügt über passive Klimatisierung und vieles mehr. Das Buch ist nicht nur ein gelungener Versuch, die Historie der Heimstadt der deutschen Metrologie unter baugeschichtlichen Aspekten zu erzählen, sondern es beseitigt auch ein Defizit über ein bedeutedes Kapitel Berliner Wissenschaftsgeschichte.