Die Moabiter Gondelfahrt

Von Arne Hengsbach

Die Geschichte der "Moabiter Gondelfahrt" hat der Chronist Wilhelm Oehlert bereits vor einem knappen Jahrhundert in einem Aufsatz festgehalten[1], der aber, wenigstens in West-Berlin, nicht mehr nachweisbar ist. Dieses Kapitel der Berliner Verkehrsgeschichte ist auch sonst hin und wieder behandelt worden, wenn auch nicht immer ganz befriedigend, so von Christoph Voigt.[2] Im folgenden wird versucht, die verstreuten Notizen über die Moabiter Gondeln in einem Überblick zusammenzufassen.

Gondeln als öffentliche Verkehrsmittel sind in Berlin in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Aufnahme gekommen. Man darf wohl Voigt folgen, der diese Gondeln als Nachkommen jener Treckschuten bezeichnete, die Friedrich I. eingeführt hatte, um das Charlottenburger Schloß auf dem Wasserweg zu erreichen.

Friedrich Nicolai[3] schreibt: "Hinzu kommen die Wasserfahrten, durch den Unterbaum nach Charlottenburg, und sonderlich durch den Oberbaum nach Stralau, Trepto und Rummelsburg, usw. nach Köpenick ... Zu diesen Spazierfahrten kann man an verschiedenen Orten Kähne und bedeckte Gondeln mieten." Die Gondeln hatten die gleichen Funktionen wie die kurz vor 1800 aufgekommenen Torwagen auf den Landstraßen, nämlich das Publikum zu den beliebten "Vergnügungsorten", wie man damals Ausflugslokale usw. nannte, zu befördern.

Nicolai erwähnt die Gondelfahrten nach Moabit noch nicht, wohl aber Joh. Dan. Fr. Rumpf[4] im Jahre 1793: "Wer nach Moabiterland, Charlottenburg, Spandau fahren will, findet im Tiergarten bei den Zelten Gondeln." Seitdem nehmen die zeitgenössischen Hinweise auf diese Gondelfahrten, die bei den "Zelten" ihren Anfang hatten, zu.

Wilhelm Oehlert[5] zitiert einen in der Zeitschrift für Freunde der schönen Künste 1799 veröffentlichten Passus: "Von den Gezelten aus kann man auch den Weg nach dem Garten von Bellevue auf der Spree in bequemen Gondeln machen, welche hier immer bereit sind, und diese angenehme Fahrt auch noch fortsetzen. Steigt man am andern Ufer aus, so findet man gleichfalls einige nicht unangenehme Partien und einige Kaffeehäuser, die indessen nur von den niederen Ständen besucht werden." Joh. Christian Gaedicke[6] erwähnt 1806: "Moabit oder Moabiterland, vor dem Unterbaum hinter den Pulvermagazinen an der Spree gelegen ... Jetzt sind hier fast nur Wirts-, Garten- und Landhäuser für die Berliner Einwohner, und diese können und pflegen auch vom Tiergarten aus über die Spree hierher zu fahren..."

Am ausführlichsten hat D. Korth[7] 1821 die Gondelfahrt nach Moabit dargestellt: "...dieses Moabit ist ein Belustigungsort der niedern Volksklasse, wohin des Sonntags und Montags zu Wasser auf niedlichen Gondeln gefahren wird, welche hinter den Zelten im Tiergarten halten. Sonntags Nachmittags werden die Bretter zum Einsteigen ausgeworfen und die Gondoliers rufen: 'Wer will mit nach Moabit!'. Es dauert nicht lange, so sind ein paar Gondeln mit Reiselustigen beider Geschlechter gefüllt, es wird abgestoßen und ein Leyermann, Harfenist oder ein Guitarrenspieler, die sich gewöhnlich auf den Gondeln befinden, beginnt mit einem Volkslied, worin sogleich die ganze Gesellschaft einstimmt. Nicht nur das bunte Gewühl auf dem Einsteigeplatz, wo auch wohl ein Guckkastenmann für 6 Pfennige London, Paris, Wien, Konstantinopel etc. sehen läßt oder ein Affen- und Bärenführer seinen Eleven Kunststücke machen läßt, sondern auch das Hin- und Herfahren der Gondeln auf dem Spiegel der Spree, das Gesinge und Gejauchze der Fahrenden, die schöne Aussicht auf die jenseits der Spree liegenden Landhäuser und schönen Baumgruppen ... können den ruhigen Beobachter wohl ein Stündchen fesseln. Die Gondeln, deren es 6 bis 8 gibt, sind zierlich ausgestattet. Der Kasten ist mit grüner und weißer Ölfarbe angestrichen, die Fensteröffnungen haben zu beiden Seiten der Gondel Rouleaux von feiner weißer Leinwand, um vor der Sonne zu schützen, und auf der Gondel weht ein rot, grün oder blau seiden Fähnchen. Eine jede Gondel kann 40-50 Personen fassen, und da sie bis spät Abends in Tätigkeit sind und die Person für jede Fahrt - hin und zurück - nur 1 Gr. zahlt, so kann man sicher ein paar Tausend Menschen rechnen, welche bei schönem Wetter Moabit des Sonntags besuchen, wo sie sich mit dem Tanz in den Wirtshäusern oder mit allerhand Spielen auf dem großen Rasenplatz zwischen den Besitzungen vergnügen..."

Carl Julius Weber[8] geht 1828 ebenfalls kurz auf die Moabiter Gondeln ein: "Das MoabiterLand besteht ohngefähr aus einem Dutzend Krügen, wo sich die Volksklasse tummelt. Man fährt auf Gondeln, mit Sang und Klang unter den Zelten ab; die Gesellschaft gewährt dem Beobachter soviel Unterhaltung..." Auch in den dreißiger Jahren finden unsere Gondeln noch Hinweisungen. Helling[9] im Jahre 1830: "Moabit ist im Sommer ein stark besuchter Vergnügungsort, von der Mittelklasse und den niederen Ständen, besonders zu Wasser, von den Zelten aus."

Leopold Frhr. v. Zedlitz[10] vermerkt kurz 1834: "Die Überfahrt mit Gondeln ist bei den Zelten."
In den folgenden Jahren werden die Moabiter Gondeln in den Berlin-Führern und Handbüchern nicht mehr genannt. Alexander Cosmar[11] etwa sagt von Moabit 1840, es werde "von der dienenden Volksklasse, welche sich hier Sonntags im Freien belustigt, stark besucht", ohne zu bemerken, wie man dahin gelange.

Und Julius Löwenberg berichtet 1847, hier sei Sonntags das "Elysium" der Berliner Köchin. "Hier ist ihr Tanzvergnügen, ihr Spielplatz, ihre grüne Wiese." Verkehrsverbindungen werden wiederum nicht angeführt. Das könnte man als Indiz dafür werten, daß die Bedeutung der Gondel als Verkehrsmittel nach den Moabiter Vergnügungslokalen zurückgegangen war.
Erst A. Merget[12] schildert 1858 noch einmal die Gondelfahrten nach Moabit: "Das Dorf Moabit ist von Alters her ein Vergnügungsort der mittleren und unteren Stände Berlins ... Es finden sich hier gemischte Gesellschaften von Leuten aus der dienenden Klasse zusammen, die sich mit allerlei Spielen im Freien und hernach in mehreren Sälen mit Tanz unterhalten. Der Weg nach dem Orte kann zu Fuß zurückgelegt werden, geht aber neben der Chaussee durch tiefen Sand; darum fährt man gern zu Wasser dorthin, wozu man bei den Zelten Gondeln in großer Zahl vorfindet. Es geht auf einer solchen, wenn sie voll beladen ist, fröhlich genug zu, und wird das Vergnügen noch gewöhnlich durch das Spiel eines Leierkastens oder anderer Straßenmusik erhöht."

In all diesen Fällen, die hier zusammengestellt sind, diente die Gondel als Nahverkehrsmittel, so wie die Torwagen und Kremser, um Besucher zu Vergnügungslokalen zu befördern. Doch wurden die Gondeln gelegentlich auch für andere Zwecke eingesetzt. Am 5. Juli 1857 inserierte das "Kaffee-Haus zum Moabiter Zelt Alt-Moabit Nr. 17": "Montag, den 6. Juli findet eine Gondelfahrt von der Marschallbrücke aus mit Musik- und Gesang-Begleitung statt. Im Lokale findet Concert von zwei Trompeter-Corps und einem Männer-Quartett statt. Der Garten wird auf das eleganteste dekoriert und erleuchtet ... Die Abfahrt der Gondeln beginnt präcise um 5 Uhr... Bei Ankunft der Gondeln beginnt ein Doppel-Concert. Billets zum Gondel-Corso und sämtlichen Festlichkeiten à 5 Sgr. ..."
Derartige Fahrten gehören in den Kreis der "Wasserkorsos", die von den vierziger bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von den Wirten großer Ausflugslokale an Ufern veranstaltet wurden. Besonders auf dem Stößensee bei Pichelsberg und in Treptow-Stralau an der Oberspree wurden solche Wasser-Korsofahrten mit Musik, z.T. auch farbiger Beleuchtung in den Abendstunden abgehalten, mit derlei Abwechslungen sollte das Berliner Publikum in die Restaurants gezogen werden.

Trotz der zahlreichen Belege über die Moabiter Gondelfahrt wird nur selten vermerkt, wo die Moabiter Gondeln ihren Endpunkt gehabt haben. Es liegen nur zwei Zeugnisse vor. Bogdan Krieger[13] zitiert ohne Quellenangabe einen zeitgenössischen Bericht, der aus etwas späterer Zeit stammt: "...Unterhalb des Zeltes No. 1 ... lag etwa ein halbes Dutzend Gondeln; sie faßten 20-30 Menschen, waren mit Brettern überdacht und an der Spitze mit einem in Holz geschnitzten bemalten Kopf geziert. An Sonn- und Montagen lockte ein in der Nähe des Steuerruders sitzender Drehorgelspieler so lange, bis der Kahn mit Fahrgästen, zu denen die Küche und die Armee [d.h. Köchinnen und Soldaten] das Hauptkontingent stellten, überfüllt war; dann stiegen zwei Mann auf das Dach und stießen ihn bis an die Moabiter Brücke..."

Auch Voigt[14] spricht von Gondeln, "wie sie auf der Unterspree zwischen den Zelten und Kaffee Gärtner" verkehrten. Auch Café Gärtner lag nahe der Moabiter Brücke. Diese Strecke war etwa 1 km lang. Mit dieser Distanz war die Moabiter Gondelfahrt zwar länger als der Weg einer Fähre, andererseits aber für eine echte Wasserpartie wiederum zu kurz. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass die Gondeln gelegentlich auch Moabiter Ziele etwas unterhalb der Moabiter Brücke angelaufen haben.

Eingegangen sind die Moabiter Gondelfahrten im Jahre 1887.[15] Über das Aussehen der Moabiter Gondeln in den letzten drei Jahrzehnten ihres Bestehens hat Voigt einige Nachrichten gebracht. Der Schiffsbauer Jahnke, der eine schon vorhandene Werft an der Moabiter Brücke 1856 übernommen hatte, "erbaute vier solcher Gondeln, die in Übereinstimmung mit den angebrachten Gallionsbildern die Namen Mohr, Drache, Schlange und Schnecke führten..." Ein "Anonymer Bericht aus den achtziger Jahren"[16] berichtet ebenfalls: "...Weiter zurück die großen Wasseromnibusse mit den grotesken Schiffsfiguren am Schnabel, mit roten und gelben Türkenköpfen, mit einem Dach versehen, wie die beste venezianische Gondel. Sie fahren von den Zelten nach Moabit und von Moabit nach den Zelten, zehn Pfennige die Person."

Da dieser Zierrat in den älteren Berichten nicht erwähnt wird, könnte es sich um erst spät verwendete Verzierungen handeln, die das eklektizistische Stilgefühl der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert widerspiegeln.

Entstehung und Ausbildung der Gondelfahrten nach Moabit hingen eng von der topographischen und wirtschaftlichen Entwicklung ihres Zielortes ab. Solange Moabit seine überwiegend ländliche Physiognomie noch wahren konnte, war es mit seinen zahlreichen Wirtshäusern einer jener gern besuchten Ausflugs- und "Vergnügungsorte", wie sie auch an der Hasenheide und an der Schönhauser Allee sich entwickelt hatten. Dabei handelte es sich um für die damalige Stadtrandzone ganz typische Anhäufungen volkstümlicher Biergärten, Tanzlokale usw. Man gab der Gondel den Vorzug, das Ziel zu erreichen, da die unbefestigten Wege nach Moabit sehr sandig waren. Hugo Wauer, der in den 1830er Jahren in Moabit wohnte, erinnerte sich[17]: "Hatte man die Brücke, gleichviel ob die Moabiter oder Charitégraben = hinter sich, dann versank man nach wenigen Schritten bis an die Knöchel im märkischen Schnee", d.h. im Sande.

Die schon wiederholt erwähnte Moabiter Brücke, etwa Mitte der 1820er Jahre als Privatbrücke erbaut, ermöglichte nun den Besuch Moabits auch vom Tiergarten aus. Die nach 1840 einsetzende Industrialisierung Moabits sowie die zunächst noch langsamer, aber stetig voranschreitende Wohnbebauung verdrängten nach und nach die alten volkstümlichen Bier- und Tanzlokale, andererseits wurde die Erschließung des Stadtteils gefördert durch Verbesserung der Straßenverhältnisse wie der Anlegung der Moabiter Chaussee.

Seit 1849 verkehrte auch eine Omnibuslinie vom Lustgarten nach Moabit, die Pferdebahn erreichte Moabit 1874. So war Moabit auch "zu Lande" hinlänglich aufgeschlossen, und zu den wenigen großen Lokalen des Stadtteils, wie z.B. zu dem vormals Ahrens'schen Brauerei-Ausschank, gelangte man nun, wenn nicht zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Gondelverkehr konnte von dem großen Strukturwandel, der Moabit ergriffen hatte, nicht profitieren, im Gegenteil, er hatte sich überlebt und mußte eingestellt werden. Aber als buntem Tupfer in der Berliner Verkehrsgeschichte und in der Volkskunde der Stadt wird man der Moabiter Gondelfahrt gern einmal gedenken.

Anmerkungen

1. Oehlert, Moabiter Gondelfahrten 1895.
2. Voigt, Die Moabiter Gondel, in Mitt. d. Ver. f. d. Gesch. Berlins, Jg. 1918, S. 42/43.
3. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam. 1786, S. 951.
4. Rumpf, Berlin oder Darstellung der interessantesten Gegenstände dieser Residenz. 1793, S. 167.
5. Oehlert, Moabiter Chronik 1910, S. 44.
6. Gaedicke, Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend, 1806, S. 235.
7. Korth, Neuestes topographisch-statistisches Gemälde von Berlin und dessen Umgebungen. 1821, S.531/32.
8. (Weber) Deutschland oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen. Bd. 111. 1828, S. 395.
9. Helling, Geschichtlich-statistisch-geographisches Taschenbuch von Berlin. 1830, S. 261.
10. Zedlitz, Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam. 1834, S. 783.
11. Cosmar, Neuester und vollständigster Wegweiser durch Berlin. 4. A., 1840, S. 80
12. Merget, Heimathskunde von Berlin und Umgegend. 1858, S. 298
13. Krieger, Berlin im Wandel der Zeiten, 1923, S. 380.
14. Wie Anm. 2.
15. Oehlert, wie Anm. 5, S. 168.
16. In den Zelten ... Hrsg. v. H. Goertz, S. Kiok, K. Pomplun, 1977, S. 15.
17. Wauer, Humoristische Rückblicke auf Berlins gute alte Zeit. 5. A., 1910, S. 12.

Aus: "Mitteilungen" 1/1987