27.5.2020

Renate Borgwardt

Ich bin ein Kriegskind, geboren wenige Tage nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und einziges Kind meiner Eltern, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, die während des Krieges immer bescheidener wurden. Mein Vater wurde zur Marine eingezogen. Schick sah er in Uniform aus. Stationiert war er in Kiel, seine Zeit bei der Marine war kurz, er musste zurück nach Berlin, UK gestellt von der AEG. Aus der Traum von Seefahrt, von Schiffen, Häfen und den Hafenkaschemmen.

Zu der Melodie: Wo die Nordseewellen trecken an den Strand…

wurde gesungen: Wo die Bomben fallen, und das Licht geht aus, da ist meine Heimat, da bin ich zu Haus.

Bei all den Ereignissen des Krieges, den Bombenangriffen, den Christbäumen, Bündeln von Leuchtkugeln, die die Bombardierungsgebiete absteckten, der ausgebombten Großmutter, die völlig verstört mit ihrem Köfferchen auf den Trümmern ihres Wohnhauses saß, hatten wir noch Glück. Die Wucht der Bombenangriffe hatte uns in den Randbezirken nicht so hart getroffen wie die dicht besiedelten Bezirke Kreuzberg, Friedrichshain, Mitte und Wedding.

Meine Mutter litt sehr unter den Bombardements, sie wollte raus aus Berlin. In ihrer Heimat Schlesien war nicht genug Platz für uns. Endlich fand sich ein entfernter Cousin in der Nähe von Kyritz bereit, uns aufzunehmen. Nach wenigen Tagen war meine Mutter von dem schlichten Landleben in dem kleinen Häuschen so genervt, dass sie wieder zurück wollte. Ich wäre so gern geblieben, es gab dort vieles, was ich noch nie gesehen hatte. Das Schwein fand ich sooo toll, dass ich in den Schweinekoben kroch. Wir machten es uns beide richtig gemütlich, für meine Mutter war es bestimmt einer der Höhepunkte dieser Wochen.

Nun waren wir wieder in Berlin. Die nächtlichen Angriffe wurden beinahe zur Routine. Fenster mussten verdunkelt werden. Geweckt von der Sirene schnappte man sich Kind mit Teddy, Köfferchen mit den wichtigen Papieren und ab in den Luftschutzkeller. Auf jedem Treppenabsatz standen zwei Eimer mit Sand, Wasser zum Löschen war wirkungslos. Eine Luftmine traf uns. Als wir wieder oben waren, sahen wir den Sternenhimmel, Fenster raus, Tapete von den Wänden.

Am 4. Mai schwiegen in Berlin endgültig die Waffen. Wir hatten uns so gut es ging verbarrikadiert, als der Bruder meiner Mutter in Uniform und mit Waffe desertierte und verzweifelt ins Haus wollte. Das löste Panik aus, alle sahen sich schon an die Wand gestellt. Uniform aus, über den Zaun, umgehend zurück.

Wohin damit? Vergraben ging nicht. frische Erde fiel auf, also in den Schornstein verbracht, die Waffe ebenfalls. Der Bruder meiner Mutter verbreitete nicht nur Angst und Schrecken, er entwickelte ein ungeahntes Beschaffungstalent sowohl bei den Russen, als auch später bei den Franzosen.

Der Eroberung der Stadt durch die Rote Armee folgte eine Welle von Gewalt und Grausamkeiten, Vergewaltigungen von Frauen aller Altersgruppen, Plünderungen, Mord. Ich erinnere mich der russischen Vorhut, der Mongolen, und des Schreckensrufes „Frau komm“ und „Uri, Uri.“ Die Frauen wurden versteckt, unkenntlich gemacht. Ich erinnere mich der Panje-Pferdchen in unserem Garten und der Russen-Frauen, vor denen ich mich fürchtete.

Mein Vater wurde verhaftet und ins Zuchthaus Plötzensee verbracht. Er kam überraschend schnell wieder nach Hause, arbeitete auf dem Kohlenplatz hinter unserem Haus, zerklopfte Dachziegel, die dann als roter Stern um Straßenschilder und Laternen gestreut wurden. Ich habe meinen Vater gern besucht, es gab oft eine Kleinigkeit fürs Kind. Manchmal brachte er einen Henkelmann mit Essen nach Hause.

Unsere Wohnung hatten wir noch, wenn auch mit Einschränkungen. Ein Tisch war uns geblieben, ein Bein stark angesengt, aber noch standfest, ein Sessel mit einer Lehne, eine Chaiselongue, überraschenderweise das Schlafzimmer und Teile der Küche. Unvergesslich ist das Loch im Fußboden, verursacht von einer Brandbombe. Legte ich mich auf den Bauch, konnte ich in das Wohnzimmer von Tante Anna sehen. Das wurde nicht geschätzt. „Ottoo, das Kind guckt schon wieder.“ Das Kind fand das toll, besonders, wenn Tante Anna sich erregte.