17. Juni 2020

 Ingrid Ludwig

Am Sonnabend, dem 12. August 1961, war ich in meiner Eigenschaft als Angestellte des Ostberliner Deutschen Reisebüros Reisebegleiterin für sechs Reisebusse mit Westberlinern, die zu den Ruderausscheidungskämpfen auf dem Templiner See bei Potsdam wollten und bei dieser Gelegenheit die Sehenswürdigkeiten in Potsdam besichtigen wollten.

Angeregt durch die sehr interessanten Eindrücke des Tages, beschloss ich nach Beendigung meiner beruflichen Verpflichtung, an diesem schönen Sommerabend noch zu meiner Freundin nach Tempelhof zu fahren, und zwar wie schon oft mit der S-Bahn. Dabei war schon sehr merkwürdig, dass es einen sehr langen Aufenthalt auf dem Bahnhof Treptower Park gab, ohne dass Polizisten, die üblicherweise die Züge kontrollierten, zu sehen waren.

Bei meiner Freundin wurde gerade eine Party gefeiert. Gegen 1:00 Uhr war dann allgemeiner Aufbruch. Ich ging wieder zum S-Bahnhof und sah gerade noch die Schlusslichter der S-Bahn Richtung Frankfurter Allee, wo ich hin wollte.

 

Nach einiger Zeit gab es die Ansage, dass kein Zug mehr in dieser Nacht käme und „ob morgen einer kommt, ist nicht gewiss.“ Es war inzwischen gegen 2:30 Uhr, als ich meine Freundin aus nächtlichem Schlaf klingelte. Auf dem Sofa konnte ich nächtigen. Gegen 7:00 Uhr wurde der Mann meiner Freundin (damals Kameramann bei der Abendschau) telefonisch aufgefordert, sich drehbereit zu machen, denn in der Nacht sei die Grenze dicht gemacht worden.

Am Sonntagvormittag rief ich bei meinen Verwandten an, die auch in Tempelhof wohnten und noch nichts von den Ereignissen der Nacht gehört hatten. Dort befand sich auch meine Tante, die am Tag zuvor aus der Uckermark nach Westberlin gefahren war, um ihren Sohn und Familie zu besuchen. Ich fuhr nun dorthin und wir beratschlagten gemeinsam, wie wir mit dieser Situation umgehen sollten. Als Westberliner konnte man noch nach Ostberlin fahren; Telefonverbindungen zwischen Ost und West gab es nicht. Meine Cousine zog sich alte Kleidung und Schuhe an und fuhr zu meinen Eltern, um ihnen die bedrückende Mitteilung zu machen, dass weder ich noch Mutters Schwester zurückkommen würden. Mit Kleidung aus meinem Bestand kehrte meine Cousine später – ihre Heimkehr wurde lange mit bangen Gefühlen erwartet - von meinen bestürzten Eltern aus Ostberlin zurück.

Ich konnte in den nächsten Wochen bei meiner Freundin wohnen, mit einem Sofa unter der Kellertreppe. Wir waren nun sechs Erwachsene (alle zwischen 22 und 25 Jahre alt) und ein Kleinkind in ihrem kleinen Haus. Obwohl die Situation bedrückend war, denn wir alle waren von Eltern und Freunden getrennt, kam bald der jugendliche Frohsinn zurück und es wurde wieder gefeiert.

Zu meinen Eltern bestand in dieser Zeit leider nur Briefkontakt. Mein Vater war 14 Tage lang krank vor Kummer, dass seine einzige Tochter nun unerreichbar war. Auch meinen Freundinnen schrieb ich. Während zwei liebe Freundinnen, mit denen ich noch heute befreundet bin, verschlüsselt ihre sorgenvollen Gedanken zum Ausdruck brachten, war eine weitere überzeugt, dass der Sozialismus siegen und der Kapitalismus untergehen und ich meinen Schritt bereuen würde. Sie gab meine Briefe an den Parteisekretär unserer gemeinsamen Arbeitsstelle weiter, wie ich später aus meiner Stasi-Akte ersehen konnte.

In den nächsten Wochen schickten meine Eltern mehrere Pakete an irgendwelche Bekannte in Westberlin, damit ich in den Besitz einiger persönlicher Sachen kommen konnte, denn es fehlte mir an allem.

Ende August begann der Unterricht am Askanischen Gymnasium in Tempelhof. In zwei „Ostklassen“ wurden diejenigen zusammengefasst, die in Westberlin das Abitur nachmachen wollten, um anschließend studieren zu können. Da viele junge Leute in der gleichen Situation waren wie ich, gewöhnte ich mich schnell an die neuen Verhältnisse.

Ich hatte es mit meinen 22 Jahren sogar besser als diejenigen, die zwischen 18 und 21 Jahre alt waren, denn diese wurden, sofern sie nicht mit Verwandten zusammenwohnen konnten, im Heim untergebracht (Im Osten bereits volljährig, waren sie dies in Westberlin nicht). Ich dagegen suchte mir eine Bleibe bei einer amerikanischen Familie als Babysitter in der Siedlung am Oskar-Helene-Heim. Dort ging es mir zwar gut, aber die Trennung von den Eltern und den Freundschaften im Osten war schmerzlich und die Einsamkeit groß.

Wir Ostler wurden finanziell außer vom Senat auch unterstützt vom Staatsbürgerinnen-Verband. Engagierte Bürgerinnen verhalfen uns im Herbst 1961 zur ersten Reise zum Internationalen Haus Sonnenberg im Harz, wo wir mit vielen jungen Leuten aus dem Ausland zusammentrafen und ganz neue Eindrücke gewannen. Bei einer Rundfahrt durch den Harz standen wir an der bereits befestigten Zonengrenze, nun aber auf der freiheitlichen Seite.

Bei diesem Aufenthalt konnte ich zum ersten Mal seit dem 12. August meine Eltern am Telefon sprechen, denn von Westdeutschland in den Osten bestanden Verbindungen, nicht jedoch von Ost- nach Westberlin.