Ein vergessener Brunnen an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Von Gisela Scholtze

Fast alle Berliner und die meisten Berlinbesucher kennen den offiziell "Weltkugelbrunnen" heißenden, vom Volkswitz "Wasserklops" genannten Brunnen vor dem Europa-Center. Sehr viel weniger Menschen können sich noch aus eigener Anschauung daran erinnern, wie es rund um die Kirche vor dem Zweiten Weltkrieg aussah, als der Platz noch nach der Kaiserin Auguste Viktoria benannt war und dort, wo heute das Europa-Center die Kirchturmruine überragt, das zweite Romanische Haus mit seinem berühmten Café stand und genau gegenüber sein Pendant mit dem "Gloria-Palast" und dem Café Trumpf.

Aber kaum jemand weiß heute noch, daß es genau dort, also vor dem ersten Romanischen Haus, zwischen Kurfürstendamm und Kantstraße auch einmal einen Brunnen gegeben hat. Das ist allerdings schon sehr lange her. Was war das für ein Brunnen? Wer hatte ihn geschaffen? Wo ist er geblieben?

Seine Geschichte ist so eng verknüpft mit der des ersten Romanischen Hauses und mit der Gestaltung des Platzes, der 1947 nach Rudolf Breitscheid benannt wurde, daß dies alles mit einbezogen werden muß. Franz Schwechten (1841 bis 1924), der Erbauer der 1895 feierlich im Beisein des Kaiserpaares eingeweihten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche (dem Andenken Kaiser Wilhelms I. gewidmet), berichtet in seiner Lebensbeschreibung, er habe, um der Kirche eine geeignete Umgebung zu verschaffen, auf Anregung des Kaisers zunächst 1893 bis 1896 gegenüber dem Hauptportal der Kirche das erste Romanische Haus erbaut, dem später auf der gegenüberliegenden Seite das zweite gefolgt sei.

Das Schicksal dieser Gebäude ist hinlänglich bekannt. Beide hatten über die Stadtgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt, das eine durch das "Romanische Café", das andere durch das Filmtheater "Gloria-Palast". Beide wurden wie die Kirche im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, ihre Ruinen nach Kriegsende abgetragen.

Bei der Errichtung des ersten Romanischen Hauses hatte Schwechten, um die Kirche ausreichend zur Geltung zu bringen, sehr viel Platz "verschenkt", indem er ca. sieben Meter hinter der zulässigen Baufluchtlinie zurückblieb. Dies und die sehr aufwändig gestaltete Fassade machten das Gebäude zu einem sehr teuren Objekt. Die Baukosten beliefen sich auf die für damalige Zeiten immense Summe von annähernd 1.600.000 Mark. Entsprechend hoch waren die Mieten der sehr großen Wohnungen. Eine Quelle berichtet von Jahresmieten um 25.000 Mark, eine andere von Monatsmieten um 7000 Mark.

Eigentümer von Haus und Grundstück war seit 1894 der Landschaftsmaler Bodenstein, der schließlich in Finanzierungsnöte geriet und den Besitz 1910 an einen Interessenten verkaufte, der mit Schwechten auf dem Nachbargrundstück in der Kantstraße den Bau eines Romanischen Hotels plante. Bei dieser Gelegenheit wurde das Erdgeschoß des Romanischen Hauses zu einem Restaurant ausgebaut. Der seinerzeit von Schwechten "verschenkte" Baugrund gehörte selbstverständlich als sogenannter Vorgarten zu dem Grundstück und war von einem schmiedeeisernen Zaun umschlossen. Innerhalb dieser Umfriedung hatte um 1900 ein Brunnen Aufstellung gefunden.

Auf der Gewerbeausstellung 1896 hatte Schwechten seinen Entwurf zu diesem Brunnen vorgestellt: Inmitten einer großen Brunnenschale erhob sich ein von vier Löwen umgebenes Podest mit drei weiteren übereinander angeordneten Schalen jeweils kleineren Umfangs, von denen die oberste eine Rolandsfigur trug. Schwechten hatte offenbar eine große Vorliebe für Symbolik, darum also ein Roland, der im Mittelalter Sinnbild für den Königsfrieden, das Marktrecht und die Gerichtsbarkeit war (aus dem Mittelalter stammen ja die an manchen Orten erhalten gebliebenen Rolandsfiguren). Schwechtens Rolandbrunnen war es also, der in dem von dem Eigentümer des Restaurants "Regina-Palast" genutzten Vorgarten stand. Die Gäste konnten in unmittelbarer Nähe des Brunnens ihre Mahlzeiten einnehmen.

Doch nur rund 30 Jahre blieb der Brunnen dort. 1928 verschwand er wieder. Warum und wohin? Dazu muß man sich in Erinnerung rufen, daß die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ursprünglich auf einer Verkehrsinsel stand, um die herum sich der gesamte Straßenverkehr bewegte, Straßenbahnen inbegriffen. Schon 1894 wurden, wie aus einem in der Akte des Tiefbauamtes befindlichen Briefwechsel hervorgeht, Bedenken laut, ob die Straßen breit genug seien, den Verkehr aufzunehmen. Damals wurden diese Bedenken zerstreut. 1928 war das anders. Zweifellos hatte sich in den verflossenen drei Jahrzehnten der Straßenverkehr deutlich vermehrt. Jedenfalls ging man nun daran, die die Kirche umgebenden Straßen zu verbreitern. In einem ebenfalls in der Akte des Tiefbauamtes befindlichem Schriftstück wird von einer Sitzung des Haushaltsausschusses berichtet, in der über die Kosten beraten wurde, die der Erwerb des Vorgartengeländes und die Beseitigung des Brunnens verursachen würden.

Die Dringlichkeit der Straßenverbreiterung werde zwar anerkannt, heißt es da, aber man wolle die benötigten Mittel erst bewilligen, wenn diese Fragen geklärt seien. Für den Verbleib des Brunnens hatte sich eine Lösung gefunden. Er wurde nämlich 1928 an die Stadt Riesenburg in Westpreußen verkauft. Auch im Romanischen Haus gab es in diesen Jahren mancherlei Veränderungen. 1930 etablierte sich in den Räumen des 1. und 2. Obergeschosses, die bis dahin die Firma J. C. Pfaff innegehabt hatte, das Filmtheater "Gloria-Palast", das als Uraufführungskino bald von sich reden machte. Im Erdgeschoß nahm das Café Trumpf die Räume des Restaurants ein und baute auf dem Rest des alten Vorgartens eine Schankveranda. Nichts davon steht mehr.

Und der Brunnen? Er hat als einziger die Zeiten überdauert. Er steht - zwar etwas ramponiert - noch immer an seinem Platz in der Stadt Riesenburg, die inzwischen ihren Namen geändert hat. Sie heißt heute Prabuty.

Aus: "Mitteilungen" 3/1995