Aus MitteilungenThemenheft: Berlins historischer Stadtkern - Das Nikolaoviertel, Oktober 2010 - Von Wolfgang Krogel
Die Pfarrkirche St. Nikolai am Molkenmarkt ist der älteste der vier noch sichtbaren mittelalterlichen Sakralbauten Berlins. Die zwei Kirchen der Inselstadt Cölln sind nicht mehr im Stadtbild erkennbar. Erbaut auf einer Talsandinsel am Spreeübergang markiert sie den Sitz einer mittelalterlichen Kaufmannssiedlung, deren Gründungszeit im letzten Dritteldes 12. Jahrhunderts vermutet wird.
Die gotische Hallenkirche, wie sie heute zu sehen ist, hatte zwei Vorgängerbauten. Der Baubeginn einer ursprünglichen Feldsteinbasilika wird um 1232 vermutet. Die urkundliche Ersterwähnung in einem Ablassbrief von 1264 erlaubt die Annahme, dass zumindest die Ausstattung der Kirche zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war. Die Einkünfte aus dem Ablass sollten der „Vollendung des Werkes“ dienen. Die Basilika war der erste massive Sakralbau in der vorliegenden Überbauung und wurde auf dem Areal eines älteren Friedhofs errichtet. Der Nachweis eines zu dem Friedhof gehörigen älteren Sakralgebäudes konnte bisher nicht erbracht werden. Die Existenz eines möglicherweisehölzernen Vorgängerbaus an anderer Stelle ist aber sehr wahrscheinlich.
Die romanische, dreischiffige Basilika besaß einen langgestreckten Chor, ein Querschiff mit Seitenapsiden, einen Westriegel, dessen drei untere Geschosse erhalten sind, und vermutlich eine flache Holzdecke. Die Errichtung des Feldseinquaderbaus ist im Zusammenhang mit der Stadtrechtsverleihung für Berlin zu sehen. Wenige Jahrzehnte nach der Fertigstellung des Kirchenschiffes erfolgte seit den 1270er Jahren der Umbau von einer romanischen Basilika zu einer gotischen Hallenkirche. Der Kirchenumbau in Berlin folgte damit einem Trend der Zeit und nahm offenbar Anregungen aus dem Raum der Ostseeküste und des uckermärkischen Binnengebietes auf.
Hundert Jahre später (1378/79) ist ein Ablass zum Bau eines neuen Chores von St. Nikolaiezeugt. Dies Datum, zwei Jahre nach dem großen Stadtbrand, markiert den Anfang einer langen Umbauphase, möglicherweise für längere Zeit unterbrochen nach einem weiteren Stadtbrand 1380. Der Hallenumgangschor wurde um 1400 fertig gestellt. Zu diesem Zeitpunkt stand noch das Langhaus vom Ende des 13. Jahrhunderts, dessen Umbau aber vermutlich schon geplant war. Die Umbauten begannen aber nicht vor Mitte des 15. Jh. In der Umbauphase, die bis etwa 1470 dauerte, kam es auch zu Änderungen des Plans.
Es entstand eine harmonisch in den Chor hineinlaufende Halle, reich ausgestattet mit Nebenaltären, Kapellen und Grüften. Die farbliche Gestaltung blieb allerdings weniger aufwändig als im Chor. Der frühgotische Backsteinbau war Ende des 15. Jahrhunderts zu einer spätgotischen Hallenkirche mit Hallenchor und Umgang mit Kapellenkranz mutiert.
Auch zahlreiche kleinere Stiftungen veränderten das Bild der Kirche im Inneren und Äußeren.Im Jahre 1452 stiftete der Küchenmeister Zeuschel der Nikolaigemeinde die Marienkapelle in Backsteinausführung an der Südseite des Hauptportals. 1461 stiftete die Berliner Bäcker-Innung, die zu den wohlhabenden Viergewerken gehörte, der Nikolaikirche einen Altar mitsamt einer jährlichen Ausstattung für den Altardienst. Die wenigen freigelegten Indizien lassen darauf schließen, dass die Kirche reich an bildkünstlerischer Ausstattung war, die seit der Reformation stark dezimiert wurde. Die Nebenaltäre wurden im 16. und 17. Jahrhundert immer mehr durch Epitaphbilder verdrängt, die heute allerdings wegen ihrer Qualität und als Zeugnisse der Zeit höchste Aufmerksamkeit verdienen. Die mittelalterliche Farbigkeit wurde einheitlich übertüncht.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts kam im Norden als die letzte mittelalterliche Erweiterung ein doppelgeschossiger Anbau hinzu, der im Erdgeschoss die Sakristei, im Obergeschoss die wertvolle Bibliothek beherbergte. Die Erhöhung des Hallengebäudes machte es außerdem notwendig, die Hauptfassade zu überarbeiten. Das breite Westwerk wurde in der Weise erhöht, dass der südliche Teil einen mächtigen Turmaufsatz mit einem hohen Turmhelm, der nördliche Teil ein einfaches Satteldach erhielt. Erst der Berliner Stadtbaurat Hermann Blankenstein ließ 1878-1879 die Kirchenach einem Entwurf Friedrich August Stülers von 1860 fertig bauen und beseitigte damitdie als störend empfundene Asymmetrie. Die vorhandenen Aufbauten wurden bis zuden drei unteren Zonen abgetragen und ein neogotischer Doppelturm mit zwei spitzen Turmhelmen darauf gesetzt. Es folgten Veränderungen des Innenraumes durch imitierte Steinsichtigkeit, Schablonendekoration der Arkadenbögen und Imitation mittelalterlicher Farbigkeit und Ornamentik. In dieser Gestalt wirkte der Kirchenbau von St. Nikolai prägendfür das Stadtbild des alten Berlin bis zu den Kriegszerstörungen 1944/45.
Eine besondere Bedeutung hatte St. Nikolai als Wirkungsstätte und Ort der Zusammenarbeit des bedeutenden protestantischen Kirchenlieddichters Paul Gerhardt, der hier von1657 bis 1667 als Pfarrer tätig war, und des Kirchenliedkomponisten Johann Crüger, 1622bis 1662 Kantor an St. Nikolai. Auf Propst Lilie zu Dienstzeiten Gerhardts folgte 1667 der Orientalist Andreas Müller. Der lutherische Theologe und bedeutende Pietist Philipp Jacob Spener war von 1691 bis zu seinem Tode 1705 Propst an St. Nikolai. Andere berühmte Namen sind mit St. Nikolai verbunden. Es soll mit Blick auf das 20. Jh. aber auch nicht verschwiegen werden, dass von 1913 bis 1922 Dr. Wilhelm Ludwig Georg Wessel dort Pfarrer war, Vater von Horst Wessel, einem hymnisch verehrten Märtyrer der Nationalsozialisten. Die Nikolaikirche war auch Ort bedeutender politischer Ereignisse:
Am 2. November 1539 trat hier der Rat von Berlin und Cölln geschlossen zum Luthertum über. Am 6.Juli 1809 wurde nach der Einführung der Steinschen Städteordnung die erste Stadtverordnetenversammlung in der Kirche feierlich vereidigt. Am 30.Oktober 1817 beteiligten sich hier die städtischenKörperschaften am feierlichen Gottesdienst zur Einführung der Union zwischen Lutheranern und Reformierten in der preußischen Landeskirche. In Anknüpfung an das Ereignis von 1809 fand im Januar 1991 hier die konstituierende Sitzung des neu gewählten Gesamtberliner Abgeordnetenhauses statt.
Säkularisierung des Kirchengebäudes, Zerstörung und Wiederaufbau 1938 wurde die Kirche von der evangelischen Kirchengemeinde für die regelmäßige Nutzung aufgegeben. Schon 1911 hatte Julius Kurth seinen Auftrag zur Erfassung der „Altertümer der St. Nikolai, St. Marien- und Klosterkirche“ von den vereinigten Gemeindekirchenräte St. Nikolai und St. Marien erhalten. 1939 fand in der Nikolaikirche zum 400sten Jubiläum des Übertritts zur Reformation in Brandenburg ein vorerst letzter Gottesdienst statt. Die Kirchengemeinde zog nach St. Marien und die Kirche fiel an den Magistrat, der das Patronatsrecht über die Kirche innehatte. Die Kirche sollte im Rahmen der Sanierung des ganzen Viertels restauriert werden. Stattdessen kam der Krieg auch nach Berlin und das Kirchengebäude brannte völlig aus, einige Gewölbe stürzten ein und die Standfestigkeit des Gebäudes war erschüttert, so dass 1949 auch die verbliebenen Gewölbe und die nördliche Stützenreihe des Langhauses fielen. Die einst stolze Kirche des Berliner Stadtbürgertums verfiel zur Ruine.
Wertvolle Teile der Innenausstattung von St. Nikolai wie übrigens auch der Franziskanerkirche überstanden aber den Krieg und gingen nach St. Marien als rechtmäßige Erbin der untergegangenen Kirchen.Das Trümmergrundstück wurde 1969 gegen den Protest der Kirchengemeinde enteignet,dem Magistrat übereignet und nach Einheitswert entschädigt, nachdem klar war, dass die Kirche den Wiederaufbau nicht leisten würde. Erst Zehn Jahre später wurde die Ruine auf die zentrale Denkmalliste der DDR gesetzt. Im Jahre 1980 wurde der Beschluss gefasst, das Gebäude im Zuge eines städtebaulichen Gesamtkonzepts für das völlig beräumte ehemalige Viertel um den Molkenmarkt wieder aufzubauen. Nach Abschluss der Vorarbeiten 1981 konnte mit dem Wiederaufbau begonnen werden. 1982 wurden die rekonstruierten Turmhelme aufgesetzt, die Gewölbe waren bis 1986 wieder vollständig rekonstruiert worden und zur 750-Jahr-Feier Berlins wurden erstmals Besucher eingelassen, die nun ein vom13. bis in das 20. Jahrhundert gewachsenes Gebäude- und Ausstattungswerk bewundern konnten. Von Anfang an war eine museale Nutzung für das wiedererrichtete Gebäude durch das Märkische Museum vorgesehen.
Die Nikolaikirche ist nun eine Museumskirche im Verbund der Stiftung Stadtmuseum Berlin. Nach einer umfassenden zweijährigen Sanierung wurde die Nikolaikirche am 21.März 2010 wiedereröffnet. Eine neue Dauerausstellung in dem nun wieder mit seinen liturgischen Ausstattungsstücken versehenen sakralen Innenraum der Kirche dokumentiert die Baugeschichte und erläutert museal die liturgische Funktionen des Kirchenraums und seiner Ausstattung. In den Kirchenhauptraum wurde die restaurierte Kanzel der nicht wieder aufgebauten Franziskaner-Klosterkirche eingebaut und einige Barockfiguren des ursprünglichen Altars aufgestellt. Außerdem werden wichtige, mit der Geschichte von St.Nikolai verbundene Persönlichkeiten vorgestellt.
Literatur:
Badstübner, Ernst und Badstübner-Gröger, Sybille: Kirchen in Berlin, Berlin 1987; Brehm, Knut: Grabmalskunstaus vier Jahrhunderten. Epitaphien und Grabdenkmäler in der Nikolaikirche zu Berlin, Berlin
1994; Henkys, Albrecht: Die Berliner Nikolaikirche. Gotteshaus, Denkmal, Museum, Berlin [2010]; Kurth, Julius: Die Altertümer der St. Nikolai-, St. Marien- und Klosterkirche zu Berlin, Berlin 1911; Mittelalterliche Sakralbauten im historischen Zentrum von Berlin, hrsg. vom Landesdenkmalamt Berlin,
Berlin 2005; Reinbacher, Erwin: Die älteste Baugeschichte der Nikolaikirche in Alt-Berlin. Ergebnisse
der archäologischen Stadtkernforschung in Berlin mit Bemerkungen von E. Lahmann und W. Nitschke,
Berlin 1963; Schade, Günter: St. Nikolai in Berlin. Ein baugeschichtlicher Deutungsversuch des Hallenchores
mit Kapellenkranz, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 17 (1966), S. 52-61;
Torge, Paul: St. Nikolai und seine Tochtergemeinden, Berlin [1927]; Veigel, Hans-Joachim; Winkler, Uwe;
Kleber, Donata: Die Nikolaikirche zu Berlin, Berlin 1991.