Die Rehberge

Von Gerhild H. M. Komander

"Die Rehberge" existieren genau genommen gar nicht mehr, aber gewöhne jemand den Berlinern ihr Mundwerk ab. Die Rehberge, das ist der Volkspark Rehberge, in siebenjähriger Arbeit mühsam der Kiefernheide und den Sanddünen abgerungen. Nimmt man, wie durch unkundige Besucher schon geschehen, die vielen Friedhöfe, den Goethepark, die Kleingartenkolonien und den Plötzensee hinzu, so erstreckt sich ein stattliches, grünes Areal zwischen dem Berlin-Spandauer-Schiffahrtskanal und der Julius-Leber-Kaserne sowie der Windhuker Straße, Afrikanischen Straße und Seestraße.

Die Rehberge bezeichneten ursprünglich nur einen Teil der unfruchtbaren Sandberge, andere hießen Fuchs-, Tax- und Wurzelberge. Derartige Flurnamen charakterisierten den gesamten Wedding. Auch ein "Leutnantsberg" ist darunter, dessen Bezeichnung auf die militärische Nutzung des Geländes in früherer Zeit verweist. Er liegt immerhin gut 52 Meter über Normalnull und diente als Beobachtungsstand bei militärischen Übungen, zu deren Teilnehmern als junger Mann auch Kaiser Wilhelm II. gehörte.

Nördlich der Friedhöfe an der Seestraße lagen Schießstände, und an der Südspitze des Plötzensees befand sich seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Militärbadeanstalt. Zehn Soldaten des hier stationierten Wachpersonals erteilte der Schuster Wilhelm Voigt am 16. Oktober 1906 den Befehl, ihn zur Ausführung eines besonderen Dienstbefehls zu begleiten. Voigt war den Männern an der Sylter Straße Ecke Seestraße begegnet, führte sie zum nahe gelegenen Bahnhof Putlitzstraße (heute Westhafen) und begab sich nach Köpenick, um den dortigen Bürgermeister gefangen zu setzen. Sein eigentliches Ziel, Ausweispapiere zu erhalten, erreichte er nicht.

Der Plötzensee erhielt seinen Namen nach der einst in ihm in großen Schwärmen vorkommenden Plötze, die silbrig schimmert und unter ihrem grauen Rücken rötliche Flossen hat, ihres roten Augenringes wegen auch Rotauge genannt. - Der Sage nach bestand einmal an der Stelle des Sees ein Dorf, dessen tiefe Zisterne ein guter Geist bewohnte. Er kam den bedrückten Bewohnern zu Hilfe und wollte dem tyrannischen Dorfschulzen eine Lehre erteilen, der ihn am Ende listig in den Brunnen schleuderte und verfluchte. In demselben Augenblick senkte sich der Boden, Häuser und Menschen wurden verschlungen. Aus dem Brunnen quoll unaufhörlich das Wasser und füllte in der Senke den See. Die Plötze treibt seitdem ein gewaltiger Hecht umher, der nur Ruhe gibt, wenn in stillen Vollmondnächten aus der Tiefe die versunkenen Glocken läuten. Dann flüchtet er ins Röhricht, und die kleinen Fische lauschen den Klängen.

Den früheren Fischreichtum des Sees belegt der hohe Pachtzins, der 1875 noch 4000 Mark betrug. Außer Plötze und Hecht holten die Fischer Schlei, Blei und Ukelei ein. Die Ukeleie hatten große wirtschaftliche Bedeutung. Aus ihren silberglänzenden Schuppen wurden in Frankreich künstliche Perlen hergestellt. Die französischen Käufer lieferten Spezialnetze, damit die nur zehn Zentimeter langen Fische gefangen werden konnten.

Die Rehberge waren bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch Materialquelle und Arbeitsstätte der Sandfuhrleute. Sie schaufelten in mühsamer Handarbeit den "Witten Sand" frei, der allein brauchbar war als Streu- und Scheuersand für die Dielenböden in den Berliner Wohnungen. Für einen "Sechser" (fünf Pfennige) gab es die Schürze voll, für einen Pfennig Sand in das Katzennäpfchen.

Bevor die Rehberge zum Volkspark wurden, plante der Hamburger Tierhändler Carl Hagenbeck (1844-1913), hier einen Tierpark anzulegen. Der erste "Zukunftstierpark", in dem nach der Idee Hagenbecks Tiere in einer ihrer Heimat ähnlichen Parklandschaft mit Seen und Bergen leben sollten, war 1907 nach zehnjähriger Arbeit in Hamburg-Stellingen eröffnet worden. Als Carl Hagenbeck 1913 starb, übernahmen seine Söhne die Planung, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs so weit gediehen war, daß Karl Baedeker die Anlage in seinem Berlin-Führer verzeichnete.

Der Krieg verhinderte die Ausführung. Geblieben sind die Straßennamen im Afrikanischen Viertel, für die die Länder und Städte der deutschen Kolonien in Afrika, aus denen Hagenbeck die notwendigen Tiere beschaffen wollte, Pate standen. Der Erste Weltkrieg hatte noch andere, bittere Folgen für die Rehberge. Der besonders kalte Winter 1918/19 trieb die Bevölkerung dort hin, um Feuerholz zu besorgen. Erst als skrupellose Geschäftemacher das kostenlose Holz zu hohen Preisen zu verkaufen begannen, wurde die Reichswehr eingesetzt. Da waren die Eichen und Kiefern so weit abgeholzt, daß das Gelände als Wüstenkulisse für den Stummfilm dienen konnte. Der Wind hatte meterhohe Dünen aufgewirbelt.

Die Entwaldung bedrohte die bodenbedeckende, schützende Flora und durch den Flugsand die Gesundheit der Bevölkerung. So beschloß der Magistrat 1922, hier einen Volkspark anzulegen. Südlich der Transvaalstraße entstand ab 1922 auf städtischem Gelände der Goethepark, der später in den Volkspark einbezogen wurde, indem man die Wegeführungen aufeinander abstimmte. In diese Zeit fällt auch die Errichtung des Wassersportplatzes am Plötzensee, der bis heute als Freibad Plötzensee fortbesteht. 1817 hatte die Stadt den See für 100 Taler gekauft.

Die Verhandlungen über den Ankauf des größeren, nördlich der Transvaalstraße gelegenen Geländes mit dem Eigentümer, dem preußischen Fiskus, konnten erst im Januar 1926 unter dem Druck der großen Arbeitslosigkeit abgeschlossen werden.
Finanziert werden sollte die Anlage aus Mitteln des Notstandsprogramms. Sofort, am 2. Februar des Jahres, begann die Umwandlung der Sandwüste in einen Park, der allen Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung Rechnung trug und nach den Worten Fritz Rücks "wohl die größte soziale und städtebauliche Leistung der letzten Jahrzehnte" war. Die Planung lag in den Händen der Gartenbaudirektoren Rudolf Germer (1884-1938) und Erwin Barth (1880-1933). 1200 Erwerbslose fanden hier für mehrere Jahre Arbeit. Der Wunsch, den Park später um das 140 Hektar große Gelände der heutigen Julius-Leber-Kaserne erweitern zu können, ging nicht in Erfüllung.

Auf 120 Hektar Land entstand der Volkspark Rehberge als ein Park, der die vorhandenen Naturräume nutzte und integrierte, statt das Gelände nach historischen Vorbildern der Gartenkunst zu gestalten, wie es im Humboldthain durch Gustav Meyer geschehen war. So tragen die großen Sicheldünen, die der Wind einst modellierte, zur Schönheit des Parks bei. Sie sind im Winterhalbjahr, wenn die Bäume den Blick frei geben, in ihrer ganzen Ausdehnung deutlich zu erkennen. "Das lange Fenn" (von mittelniederdeutsch "venne" für Moor- und Sumpfland) im Osten der Rehberge wurde zu einer Kette kleiner Seen gestaltet.

Am Fuße des Leutnantsbergs fand die Dauerkolonie "Rehberge" mit 460 Gärten ihren Platz. Zur sportlichen Betätigung luden ein Leichtathletikstadion, eine Sportwiese, zwei Fußballplätze und zehn Tennisplätze ein. Kinderspielplätze und Planschbecken, ein Luft- und Sonnenbad sowie ausgedehnte Liegewiesen standen Alt und Jung zur Verfügung. Der Tanzring und die Freilichtbühne mit ihren 3500 Sitzplätzen dienten dem Vergnügen aller.

Eine besondere Attraktion war und ist die große Rodelbahn, die vom Kamm der großen Sicheldüne auf 1300 Metern einen Höhenunterschied von 20 Metern überwindet. Die kleine Rodelbahn im Goethepark eignet sich für kleine Kinder.
Einen weiteren Anziehungspunkt bilden die Wildgehege, in denen Damwild, Rehe und Wildschweine aus nächster Nähe zu beobachten sind. Sie waren vorher schon in den Rehbergen heimisch wie auch Füchse, Baummarder, Wiesel, Fledermäuse, Eichhörnchen und Igel. Die Flora der Rehberge wird weitestgehend von einheimischen Bäumen, Stauden und anderen Pflanzen bestimmt. Wer den blühenden Frühling in Berlin vermißt, findet ihn unter den Rotbuchen in den Rehbergen, wo in großen Kolonien Winterlinge, Buschwindröschen, Leberblümchen und andere Frühlingsblüher ihre Köpfe recken.

Am 22. Juni 1929 wurde der Volkspark Rehberge der Öffentlichkeit übergeben und besteht in seinen wesentlichen Elementen bis heute fort. Am Ende der großen Sicheldüne fand 1930 der Rathenaubrunnen Aufstellung. Georg Kolbe schuf dazu die monumentale Bronzeschraube, die 1934 von den Nationalsozialisten entfernt wurde.

Harald Haacke rekonstruierte das Denkmal 1987. Die breite Treppe, die zum Brunnenplateau hinaufführt, trägt an ihren Wangen die Reliefbildnisse Walter und Emil Rathenaus. Auf den Kamm zur großen Rodelbahn führt von der Otawistraße aus der Carl-Leid-Weg. Er wurde 1954 zum 25. Jahrestag der Eröffnung des Parks nach dem ersten Bürgermeister des Wedding benannt. Carl Leid (1867-1935), der sein Amt von 1921 bis 1933 ausübte, gehörte zu den Initiatoren des Volksparks. Ein Denkmal für die Arbeiter sucht man vergeblich. Oder man steht mittendrin: Es sind die Rehberge selbst.

Der Park sollte, so schrieb sein früherer Direktor Franz Affeld, am Rande des Häusermeeres "ein Wahrzeichen des neuen Berlin sein". Er wurde! Wer in Berlin kennt sie nicht - die Rehberge?

07/2003