100 Jahre Berliner Staatliches Schauspielhaus

In der öffentlichen Versammlung vom 11. März 1921 sprach Herr Paul Alfred Merbach zur Erinnerung an das bevorstehende Jubiläum "Über 100 Jahre Berliner Staatliches Schauspielhaus". Nach Begrenzung des Themas (war es doch völlig unmöglich, die Fülle von geistiger, seelischer und physischer Arbeit zu umspannen, die in diesem Zeitraum in dem Schinkelbau am Gendarmenmarkte geleistet worden ist!) wurde etwas ausführlicher, auf Grund der Bauakten, auf die Entstehungsgeschichte des Theatergebäudes eingegangen, dessen plastischer Schmuck von Friedrich Tieck, dem Bruder Ludwig Tiecks, stammt und der einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der Berliner Plastik darstellt; eine besondere Analyse erfuhr die merkwürdige antikisierende Ifflandstatue im Foyer.

Von dem Entstehen des Prologes Goethes zur Eröffnungsfeier ward berichtet, von der Eröffnungsfeier selbst und das Repertoir sowie Ensemble der ersten Zeit einer Prüfung unterzogen. Ludwig Devrient und das Ehepaar Wolff waren hier besonders hervorzuheben; merkwürdig bleibt die Tatsache, daß noch auf lange hinaus die "großen" Stücke und Werke im Opernhause gegeben wurden. Doch schon wenige Wochen nach der Eröffnung des Theaters gelangt das erste Werk dort zur Darstellung, das einen Welterfolg darstellt und dem Spontinis Eifersucht den Platz Unter den Linden nicht gönnte: Webers Freischütz.

Eingehender ward dann das Schauspielrepertoir charakterisiert, wo die überaus merkwürdige Tätigkeit und Wirkung Ernst Raupachs hervorgehoben zu werden verdiente. 1827 bildet dann die deutsche Uraufführung von Shakespeares Richard III. einen Höhepunkt; Graf Brühl wird als Leiter der Hoftheater durch Graf Redern abgelöst, unter dem das Niveau des Repertoirs und der Darstellung etwas sinkt, um erst mit dem Engagement Seydelmanns, der sich freilich nach wenig mehr als fünfjähriger Tätigkeit aufrieb, wieder in den Mittelpunkt des geistigen Interesses zu treten; das den Spielplan lenkende Interesse Friedrich Wilhelms III. für Vaudevilles und lustige Einakter, oft französischer Herkunft, war allmählich in den Hintergrund getreten; seit ungefähr 1827 war für mehrere Jahrzehnte ein regelrechtes französisches Schauspiel mit eigener Truppe eingerichtet worden.

1840 kommt mit Hebbels Judith wieder einmal ein großer Dichter zu Worte; im selben Jahre werden die Werke des jungen Deutschland auf dieser Bühne heimisch, obgleich Theodor von Küstner, der für etliche Jahre an der Spitze dieses Hauses berufen ward, bald vorsichtig und zurückhaltend wird, da Friedrich Wilhelm IV. zu dieser "Richtung" kein inneres Verhältnis gewinnen kann. Döring und Dessoir werden wertvolle Stützen des Ensembles; Botho von Hülsen, der 1852 für mehr wie dreißig Jahre die Leitung des Hauses übernimmt, legt den Wert auf eine nie unterbrochene Verlebendigung der Klassiker, neben denen Benedir und Birch-Pfeiffer (die für fast 25 Jahre als Mitglied wirkt) stark bevorzugt werden.

Noch einmal geht von diesem Hause ein Welterfolg aus: 1867 wird Brachvogels Narciß zum ersten Male gespielt. Später aber hat man es sich entgehen lassen, die reichen Mittel dieses Theaters in den Dienst einer literarischen Bewegung zu stellen, so daß nachdem durch die Gewerbefreiheit nach 1848 überdies eine Reihe anderer Berliner Bühnen entstanden waren, jetzt die Gründung des Deutschen Theaters und bald darauf des Lessingtheaters erfolgen kann; das Kgl. Schauspielhaus wird eine Unterhaltungsbühne, die allerdings das theaterkräftige Talent Wildenbruchs fördert, aber unter Graf Hochberg und auf besondere Wilhelms II. auch die Stücke Lauffs und der Schwänke Kadelburgs (Das Bärenfell!) zur Wiedergabe bringt.

Der Posten eines Direktors des Schauspielhauses wechselt verschiedentlich, ohne an eine führende Persönlichkeit zu kommen; aus der künstlerischen Arbeit dieser letzten Jahre des vorigen Jahrhunderts ist noch eine intensivere Berücksichtigung Hebbels hervorzuheben. Das Heldenspielpaar Matkowsky und Rosa Poppe, zu denen noch Vollmer und Anna Schramm (sie hatte die Frieb-Blumauer abgelöst) als Komiker traten, begünstigt die Pflege der klassischen Dramen, unter denen Shakespeare an erster Stelle steht. Unter Botho von Hülsen ändert sich das wenig, obgleich hier Ibsens Peer Gynt und Stücke von Strinberg u. a. das repertoir bereichern. Erst unter Führung Leopold Jeßners ist die Bühne im Begriffe, Gedanken der Zeit in szenischer Verlebendigung Rechnung zu tragen, so daß das Haus im Begriffe steht, ein in jeder Hinsicht führendes deutsches Theater zu werden!

Aus: "Mitteilungen" 38, 1921, S. 15-16. Redaktion: Gerhild H. M. Komander 12/2003