Strausbergs Stadtentwicklung

Von Dr. Wels

Trotz des unvermutet hereinbrechenden Herbstwetters fanden sich Dienstag, den 13. September 1921, gegen 3 Uhr, etwa 80 Teilnehmer auf dem Staatsbahnhof Strausberg ein, fuhren mit der Elektrischen Bahn (jetzt 1,50 M) nach der Stadt Strausberg bis zu dem neuen, im Jahre 1907 errichteten Realgymnasium, wo Herr Studienrat Dr. Kurt Wels die Erschienenen begrüßte, die in den Treppenaufgängen und Fluren zahlreich untergebrachten Gegenstände des städt. Heimatmuseums erläuterte und sodann in dem mit dem Hindenburg-Porträt geschmückten Festsaal den einleitenden, mit vielem Dank und Beifall aufgenommenen Vortrag über die Entwicklung Strausbergs vom Wenden- und Fischerdorf bis zum modernen Vorort hielt:

Die Gründungsgeschichte der Stadt Strausberg hängt aufs engste mit der Erwerbung der Lande Barnim und Teltow durch die Askanier zusammen. Als in dem Verzweiflungskampfe des infolge der Verletzung seiner Reichsvasallenpflicht geächteten Herzogs Heinrich des Löwen dieser die ihm verbündeten Pommern und Liutizen 1180 auf den Erzbischof von Magdeburg hetzte und die wilden Slawen Zinna und Jüterbog überfielen, da fühlte sich der ebenfalls zu den Gegnern der Welfen gehörige Askanier Otto I. an seiner Nuthe-Havel-Grenze bedroht, rückte gegen die Pommernherzöge Kasimir II. und Bogislaw I. aus und schlug sie vernichtend.
Jener fiel, dieser wurde gefangen genommen. Wo die Schlacht stattfand, wissen wir nicht. Doch ist es wahrscheinlich, daß Otto von der Nuthelinie aus den beutebeladenen rückkehrenden Feinden im Barnim in die Flanke stieß.

Der Haupterfolg dieses Sieges war, daß Bogislaw, als er 1181 vor Friedrich Barbarossa im Feldlager vor Lübeck erschien und die Belehnung seiner Landes aus der Hand des Kaisers erbat und erhielt, sich nicht nur mit Otto aussöhnen, sondern vor allem auch sein Gebiet der deutschen Kolonisation öffnen mußte.

Damit wurde der Barnim Interessengebiet der Askanier und die friedliche Erwerbung vorbereitet. Freilich wurde diese schon bald durch das machtvolle Umsichgreifen Dänemarks unter Waldemar dem Großen und Knut VI. in Frage gestellt, als diese nicht nur die deutsche Lehnshoheit abschüttelten, sondern sich sogar die norddeutschen Slawenländer botmäßig machten und damit auch die Hand nach dem Barnim ausstreckten.

Wollte Otto II. seine soeben durch einen günstigen Vertrag gewonnene Stellung in diesem lande behaupten, so galt es, den ungleichen Kampf gegen die starke nordische Militärmacht aufzunehmen. Er wagte ihn und hatte Erfolg.
1198 besiegte er die zu Schiffe auf der Oder und auf dem Landwege heranziehenden Dänen, Rugianen, Polaben und Obotriten, nahm ihren Führer, den Kanzler und Bischof Peter von Roeskilde, gefangen und drang im Bunde mit Adolf von Holstein selbst verwüstend in die Gebiete der slawischen Hilfsvölker ein.

Die Nordgrenze des Barnim wurde durch eine Reihe von Befestigungen an der Finowlinie gesichert und als Ausfallstor Oderberg weit vorgeschoben. Die Kämpfe dauerten auch unter Albrecht II. und während der Vormundschaft seiner Söhne Johann I. und Otto III. fort, wurden aber schließlich nicht auf märkischem Boden, sondern 1227 bei Bornhövede entschieden.
Dänemark mußte seine Eroberungen herausgeben, Pommern auf die verlorenen Länder Barnim und Teltow verzichten, die nun aus Okkupationsgebieten rechtlicher Besitz der Askanier wurden.

In diese Kampfzeit fällt die Gründung einer deutschen Siedlung am Straussee. An der Stelle der jetzigen Altstadt, einer natürlichen Wasser- und Sumpffestung, saßen seit Jahrhunderten am See Wenden, an die noch der heutige Strausberger Fischerkietz erinnert. Eine uralte Straße - via vetus sagt eine Zinnaische Urkunde von 1238 - führte hier über den Sumpfpaß zum hohen Barnim hinauf nach Wriezen.

Diese Straße gewann für die Askanier während der Dänen- und Pommernkämpfe als Etappenstraße hohe Bedeutung, da sie den leichtesten Zugang zu ihrer Nordfront bildete. Sie legten deshalb zu ihrem Schutze und als Etappenort auf dem Strausberge der Name ist vermutlich jünger - eine markgräfliche curia, wohl einen befestigten Wirtschaftshof, an und versahen sie mit militärischer Besatzung.

Noch jetzt gemahnt die Ritterstraße daran. Es ist die sogenannte "Burg", von der spätere Chronisten, so auch der in der Marienkirche begrabene Andreas Engel erzählen. Ob unterhalb der curia schon damals ein Suburbium entstand, wissen wir nicht. Es darf jedoch vermutet werden, daß die eigentliche Stadt erst nach dem Abschluß der Kampfzeit, also nach 1227, gegründet ist.
Daß dies planmäßig geschah, lehrt ein Blick auf das Meßtischblatt. Neben der curia wurde auf Veranlassung Johanns I. durch einen oder mehreren Lokatoren die älteste Stadt (oppidum) Strausberg als Zweistraßenort angelegt.

Der eine Straßenzug, die jetzige Große (früher auch Breite) Straße, läuft geradewegs von Tor zu Tor, der zweite wird durch Ritter- und Klosterstraße gebildet. zwischen ihnen liegt auf der Höhe der Markt, der im Süden einst bis zur Prediger- (früher Priester-) Straße reichte. Auf ihm standen parallel die Marienkirche und das alte Rathaus, dessen unterirdische Kellergewölbe noch heute sinnverwirrend in der Lokaltradition herumspuken.

Die ganze Planung des alten Stadtgrundrisses zeigt, daß die Anlage ursprünglich berechnet war, eine Kaufmanns- und Handelsstadt zu werden. Die eine Hauptstraße war für die Zufahrt, die andere für die Abfahrt des sich nur auf dem geräumigen Markte kreuzenden und an den Toren begegnenden Wagenverkehrs bestimmt. Bedeutsame Vorrechte, die sich freilich größtenteils nur aus jüngeren Bestätigungsurkunden erschließen lassen, sollen das merkantile Aufblühen der jungen Stadt sichern und fördern.
In der Tat erlebte Strausberg in den glücklichen Askaniertagen einen schönen, freilich zu kurzen Frühling. nach der Teilung des askanischen Besitzes unter die beiden Brüder nahm sich der fromme Otto III. der Stadt besonders an. Er berief 1252 seinen Lieblingsorden, die Dominikaner-Predigermönche, her, schenkte ihnen nördlich der curia Bauland, stiftete eine große Geldsumme und veranlaßte so 1254 die Gründung des Strausberger Dominikanerklosters.

Da sich nun aber die Dominikaner gleich den Franziskanern nur in gesicherten Städten niederließen, sorgte Otto 1254 zugleich für die Ummauerung der Stadt, die bisher offenbar nur durch einen Palisadenzaun geschützt war. Bei dieser Gelegenheit erfuhr die Stadt eine Erweiterung, da außer dem Zweistraßenorte auch eine östlich davon entstandene Siedlung, die nach ihrer Planung (angerartig zur Viehaufnahme, aber ohne durchgehende Straße) und ihrer Lage nach der Seite des städtischen Hufenbesitzes deutlich als bäuerlich gekennzeichnet ist, sowie nördlich davon ein noch unbebautes Sumpfgebiet in den Mauerring einbezogen wurde.

Jene Dorfsiedlung, nach der Gesamtanlage unzweifelhaft jünger als der Zweistraßenort und demnach nicht wendisch, wie gerne behauptet wird, ist das Lindenplatzviertel mit der längst verschwundenen und urkundlich fast unbezeugten Nikolaikirche, das Sumpfgebiet der jetzige Buchhorst.

Der Kietz blieb außerhalb der Mauer, zwischen dieser und dem See eingeklemmt, aber mit der Stadt durch eine turmgeschützte Pforte verbunden. Auch die neuen Stadtteile bekamen in dem einfachen Müncheberger Tor einen eigenen Ausgang. Die beiden alten Haupttore aber wurden als starke Doppeltore angelegt. Von ihnen steht noch der innere Torturm des Landsberger Tores, jetzt Pulverturm genannt. Auch von der Mauer mit ihrem schichtenweisen Aufbau, den Wiekhäusern und Eckwarten sind größere Reste erhalten.

Otto III., der Wohltäter und Gönner der Stadt, fand im Kloster seine letzte Ruhestätte. Seine Saat ging jedoch nicht nach Wunsch auf. Als der Askanierstaat seine Grenzen bald bis zur Oder und noch darüber hinaus ausdehnte und die damals aufkommende Flußschiffahrt Berlin und Frankfurt als Handelszentralen aufblühen ließ, ging die merkantile Bedeutung Strausbergs immer mehr zurück.

In den mittelmärkischen Städtebünden der letzten Askanier- und der ersten Bayernzeit spielt Strausberg noch eine bedeutsame Rolle und wird in den Urkunden mit an erster Stelle genannt. Als aber die Haupthandelsstraße weiter südlich über Müncheberg verlegt wurde, hatte Strausberg als Kaufmannsstadt ausgespielt. Es fängt an, sich zur Ackerbürgerstadt umzuwandeln.

Diese Veränderung, die sich während der Bayernzeit vollzog, spricht sich deutlich einerseits durch die Randbebauung des Kirchplatzes und die dadurch bedingte Verkleinerung des verödenden Marktes, anderseits durch den wachsenden Landbesitz der Stadt aus, die in diesem Zeitabschnitt die Feldmarken der wüsten Dörfer Kunikendorf, Richardsdorf und Kähnsdorf - verunglückter Anlagen aus der Zeit des askanischen Siedlunsgfiebers - erwirbt.

Leider aber war Strausberg militärisch immer noch bedeutsam genug, um fast in jedem größeren Kriege der Zankapfel der streitenden Parteien zu werden. Die Truppen des falschen Woldemar, die Bayern (1350 bis 1354), Dietrich von Quitzow und die Pommern, die Mecklenburger, die Hussiten, am schlimmsten während des Dreißigjährigen Krieges kaiserliche (Wallenstein), kurfürstliche und schwedische Truppen haben abwechselnd die unglückliche Stadt bestürmt, geplündert, verbrannt und in längerem oder kürzerem Besitz gehabt.

So sank der ursprüngliche Wohlstand der kleinen Stadt, und als der schreckliche Krieg seinem Ende zuneigte, da waren von 209 Häusern nur noch 27 bewohnt, so daß der Rat (1644) klagte, daß "man nicht eine lebendige Seele, wan man sich in der Stadt gassen umsiehet, ansichtig wirdt" und noch 1649 befürchtete, "die bürger werden auch davon gehen, Undt wier werden folgen müßen".

Die letzten Bürger haben ihre Heimat nicht aufgegeben. Trotz des trostlosen Verfalls, trotz der ungünstigen Erwerbslage, trotz der riesenhaften Schuldenlast an rückständigen Kontributionen, unbeglichenen laufenden Abgaben, fälligen Zinsen und unbezahlten Rechnungen ist die Stadt aus dem elenden Trümmerhaufen von neuem erstanden.

Das ganze Stadtwesen neu geregelt und den Fortbestand überhaupt ermöglicht zu haben, ist das Verdienst des Großen Kurfürsten.
Unter seinen Nachfolgern blühte das Handwerk, besonders das der Schuster, auf, hielt die Industrie, vor allem die Tuchmacherei für den preußischen wie auch ausländischen Heeresbedarf, ihren Einzug. Noch jetzt ist die Schuhfabrikation der Hauptzweig der städtischen Industrie; aber auch das Geklapper des Handwebstuhls ist noch nicht völlig verklungen, ja diese Industrie ist als Teppichweberei in neuem Aufschwung.

Aber das eigentliche Gepräge gibt dem modernen Strausberg nicht Handwerk und Industrie, auch nicht die Landwirtschaft, sondern der Fremdenverkehr, der jährlich Tausende durch die Naturschönheiten seiner engeren und weiteren Umgebung nach der Stadt führt.
Seit Fontane, der unermüdliche Heimatwanderer, die schlichten spröden Reize der märkischen Landschaft entdeckt hat und die neuzeitlichen Fahrverbindungen die Möglichkeit einer schnellen und billigen Beförderung geschaffen haben, ist Strausberg unter den östlichen Vororten Berlins ein gern besuchter Ausflugsort, ein beliebter Sommeraufenthalt für Erholungsbedürftige und eine geeignete Siedlungsstätte für Großstadtmüde geworden.

So ist es in den letzten Jahrzehnten nicht nur über seine frühere Bevölkerungsziffer, sondern auch über den einst kaum ausgefüllten Mauerring der Altstadt hinausgewachsen. Zwischen dem Landsberger Tor und der Ostbahn ist eine idyllisch im Grünen eingebettete Villenvorstadt entstanden.

Nur weniges erinnert in der Altstadt noch an die große und so schicksalsreiche Vergangenheit Strausbergs. Desto beredter sprechen die Urkunden, Akten und Aufzeichnungen des Zerbster und Strausberger Archivs.
Sie erzählen, wie Otto III. hier seine frommen Bußübungen abhielt, wie der große Woldemar den Rat begabte, wie sein Doppelgänger der Stadt sämtliche Freiheitsbriefe nach Anhalt entführte, wie das bayrische Trauerspiel hier in Gegenwart Karls IV., seines Sohnes Wenzel, Ottos des Finnen und seiner Vettern kläglich endete, wie Jobst von Mähren mit schönen Versprechungen und leeren Taschen kam, wie Dietrich von Quitzow den Bürgern den roten Hahn aufs Dach setzte (man lese Wildenbruchs Quitzows, deren 2. Aufzug in Strausberg spielt, und Klödens romanhaftes Werk), wie die Reformation nüchtern praktisch ihren Einzug hielt, wie die Hohenzollern häufig als Gäste in der Stadt weilten, vom Burggrafen Friedrich [Kurfürst Friedrich I.] bis zum großen Könige, an den sich noch ein Anekdötchen knüpft, kurz, sie wissen von wenigen bescheidenen Freuden- und vielen schweren Nottagen bis zum Riesenschreck von 1760 und der Franzosenzeit von 1806 bis 1813.
Eine eingehende quellenmäßige Geschichte der Stadt bereitet der Verfasser dieser Zeilen vor. Ihr erster Band ist baldigst im Druck zu erwarten.

Aus: "Mitteilungen" 38, 1921, S. 39-41

Redaktion: Gerhild H. M. Komander 12/2003