Zentralachse des alten Berlin: Die Spandauer Straße
Von Martin Mende
Das mittelalterliche Berlin kann in einen älteren Teil um St. Nikolai und einen etwas jüngeren um St. Marien unterschieden werden. Die Spandauer Straße verband als Nordwest-Südost-Achse die durch die jetzige Rathausstraße getrennten Teile und führte vom Molkenmarkt zum Spandauer Tor . Der Hauptteil der Straße entstand im Zuge der ersten Stadterweiterung Berlins ab der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Grabungen in 2001 ergaben, dass der älteste Straßenhorizont ein Höhenunterschied von bis zu 65 cm aufwies.[1] Ursprünglich grenzte der Neue Markt mit der Marienkirche unmittelbar an die Spandauer Straße. In der Straße war zunächst das giebelständige Fachwerkhaus vorherrschend, nach den Stadtbränden des 14. Jahrhunderts kamen die Steinhäuser mit Ziegeldach auf. Ende des 14. Jahrhunderts entstanden die ansehnlichen Häuser der Patrizier-Familien Blankenfelde (Nr. 49), Brügge und Rode. Der Bau der ersten Spitäler Berlins an den seinerzeit wichtigsten Stadttoren , Heiliggeist am Spandauer Tor am Ende der Spandauer Straße und St. Georg vor dem Oderberger Tor am Ende der jetzigen Rathausstraße sind ein Beleg für die damalige Bedeutung der beiden Hauptstraßen Alt-Berlins, an deren Kreuzungspunkt damals wie heute auch das Berliner Rathaus liegt.
Um 1700 war die Spandauer Str. bevorzugtes Wohngebiet vieler Bediensteter des Hofes. Eigene Häuser besaßen 1704 u. a. Kammerherr Johann August Marschall von Bieberstein, Hof-Küchenmeister Heinrich Bernhard Meyer, Kgl. Speisemeister Christian Ladovius, Staats- und Kriegsrat Paul Freiherr von Fuchs, Staatsrat Joachim Friedrich von Rhetz und der Goldschmied Andreas von Lichen.[2]
In Berlin wurden Grundstücksnummern erst 1798 eingeführt, mit 1 auf der nordwestlichen (rechten) Seite anfangend bis zum Ende der Straße und an der südöstlichen (linken) Seite wieder zurück. Ab 1929 wurde die sog. wechselseitige Nummerierung mit den ungeraden Zahlen für die linke und den geraden für die rechte Seite vorgezogen, aber bei vielen Straßen blieb es bei der alten Regelung. In der Spandauer Str. änderte sich die Nummerierung leider häufig; die heutige wechselseitige Nummerierung erschwert den Vergleich mit älteren Angaben über die Standorte von Häusern.
Die Nordwestseite
An der Ecke zur jetzigen Anna-Louisa-Karsch-Straße liegt unverändert die Nummer 1, heute das Gebäude der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität, ursprünglich als Handelshochschule Berlin 1904 - 1906 vom Architektenbüro Cremer & Wolffenstein errichtet. Der Bau umfasst den Rest des hier einst ansässigen Hospizes zum Heiligen Geist, die Heiliggeistkapelle. Ausgrabungen in den Jahren 1995-98 legten hinter dem Gebäude der Hochschule den mittelalterlichen Friedhof frei.
Südlich der Heiliggeistkapelle erstrecken sich heute der neugeschaffene, früher nicht vorhandene Heiligegeistkirchplatz und die zur Spree führende St. Wolfgang-Straße. Vor dem zweiten Weltkrieg mündete hier die Heiligegeistgasse in die Spandauer Straße, während die St. Wolfgang-Straße etwas weiter südlich zwischen Burgstraße (Spree-Ufer) und der nach Süden abgeknickten Heiliggeistgasse lag. Auf dem Gelände des heutigen City Dom Aquarées befand sich in der alten Nr. 6 die Baumwollfabrik Gebr. Friedländer & Maaß , deren Miteigentümer Kommerzienrat Richard Friedländer 1913 in der vornehmen Bellevuestr. 8 am Rande des Tiergartens wohnte. In der früheren Nr. 7 betrieb die Tabakhändlerdynastie von Francois Dufrésne über drei Generationen Produktion und Handel.
Sämtliche Wohn- und Geschäftshäuser bis zur heutigen Karl-Liebknecht-Straße wurden 1939 für den geplanten Neubau der Industrie- und Handelskammer abgerissen, jedoch kam nach Kriegsbeginn die Bautätigkeit mit Fertigstellung des Kellergeschosses zum Erliegen. 1976 - 1979 entstand hier das Palasthotels mit der Adresse Karl-Liebknecht-Straße 5, ein Komplex mit 600 Zimmern und 1000 Betten. Überlegungen für eine höhere Grundstücksausnutzung nach dem Umbruch 1989 führten 2001 zum Abriss des zuletzt als Radisson /SAS geführten Hotels und des angeschlossenen Tagungszentrums. Nach dem städtebaulichen Entwurf der Architekten Karl Pächter und Volker Martin wurde die Blockrandstruktur durch vier Gebäude wieder hergestellt und der Verlauf historischer Straßenzüge durch Fußgängerbereiche markiert. Im Bürogebäude an der Spandauer Straße befindet sich der Eingang der Erlebniswelt Sea- Life Berlin (Nr.3). Durch 30 verschiedene Wasserbecken soll das Leben im Wasser von der Quelle der Spree bis zu den Ozeanen nahegebracht werden. Der Rundgang endet im Nachbargebäude mit der Fahrt eines gläsernen Fahrstuhls durch ein zylindrisches Meeresaquarium, das inmitten eines Hotel-Foyers (Radisson Blu Hotel) aufragt.
Die Anlage der Kaiser-Wilhelm-Straße im 19. Jahrhundert und die nochmalige Verbreiterung der heutigen Karl-Liebknecht-Str. haben viele Häuser der Spandauer Str. verschwinden lassen. Um 1850 erstreckten sich von der Brauhausgasse bis zur Königstraße (jetzt Rathausstraße) die Grundstücke 14- 25, später auf gleichem Terrain bis nach 1945 die Grundstücke 10 bis 15. Die Ruine des ehemaligen Kaufhauses Preußen (Nr. 11) wurde erst 1958 abgerissen, Nr. 13 und 14 gehörten der Post, Nr. 15 war bereits das Eckgebäude zur Rathausstraße. Auf dem damaligen Grundstück Nr. 14 ( Nr. 21) hatte der Kurbrandenburgische Generalfeldmarschall Otto Christoph Freiherr von Sparr (1599 - 1668) sein Stadthaus Nach dem erfolgreichen Feldzug gegen die Türken 1663/64 - er war Führer des brandenburgischen Korps bei der Reichsarmee - wurde er zum kaiserlichen Generalfeldmarschall befördert. Sein Stadthaus vermachte er der Tochter seines Freundes Otto von Schwerin, der Freifrau Luise Hedwig von Blumenthal. Eine große Steintafel mit einer lateinischen Inschrift zu Ehren des Freiherrn von Sparr konnte im Hof des Hauses beim Abriss 1875 sichergestellt werden; sie ist derzeit im Waffensaal des Märkischen Museums ausgestellt. Das weiße Marmorepitaph Sparr befindet sich im Chor der Marienkirche.
Die südwestliche Seite
Südlich der Rathausstraße liegt der älteste Teil der Spandauer Straße. Im früheren Eckhaus Spandauer Str. 26 wurde Rahel Levin (1771 - 1833) als Tochter des Bankiers und Juweliers Markus Levin geboren. Ihr berühmter literarischer Salon lag allerdings ab 1793 bis 1806 in einer Dachstube Jägerstraße 54. Dort hängt seit 1997 zur Erinnerung im Durchgang des heutigen Gebäudes eine Bronzetafel mit ihrem Portrait. Rahel heiratete 1814 Karl August Varnhagen von Ense und empfing ihre Gäste später in anderen Wohnungen, zuletzt in der Mauerstraße 36.
Auf den ursprünglichen Grundstücken 26-32 bis zur Propststraße (später zusammengefasst als Nr. 16) stand das Kaufhaus Israel, das älteste und zur Zeit seiner Entstehung größte Kaufhaus Berlins. Es begann 1843 mit dem Erwerb des Hauses Nr. 28 durch den Leinenwarenhändler Nathan Israel. Die Israels waren bereits zur Zeit Friedrichs des Großen als Schutzjuden nach Berlin gekommen. Nathan starb 1848, sein Sohn 1894.Der Enkel Berthold erwarb bis 1899 auch die Nachbargrundstücke und beauftragte den Architekten Ludwig Engel mit der Errichtung eines Kaufhauses bis zur Propststraße. Am Ende erstreckte es sich nach einer letzten Erweiterung durch Heinrich Straumer 1927 über sechs Etagen mit einer Frontfläche von mehr als 300 Metern an der Spandauer und der jetzigen Rathausstraße. Vor dem zweiten Weltkrieg betreuten 2000 Angestellte eine Verkaufsfläche von 5000 m² (zum Vergleich mit heutigen Kaufhäusern: KaDeWe 60.000 m², Galeria Kaufhof am Alexanderplatz 35.000 m²). Der letzte Eigentümer Wilfried Israel wurde im Zuge der „Arisierung" 1939 zum Verkauf gezwungen und emigrierte nach England. Er starb 1943 bei einem humanitären Einsatz zur Rettung jüdische Kinder, sein Flugzeug wurde auf dem Wege von Lissabon nach London von der deutschen Wehrmacht abgeschossen. An der Ecke Rathausstraße / Spandauer Straße erinnern auf dem Bürgersteig zwei „Stolpersteine" des Künstlers Gunter Demnig an das Kaufhaus und an Wilfried Israel.
Auf der gleichen Straßenseite gegenüber der Einmündung der Gustav-Böß-Straße befand sich in dem Haus Nr. 17 (vormals 33) an der Ecke Propststraße seit 1707 die Apotheke „Zum goldenen Bären" von Henning Christian Marggraf (1680 - 1754) Sein Sohn, der Chemiker Andreas Sigismund Marggraf (1709 - 1782), entdeckte 1747 den Zuckergehalt der Runkelrübe und bereitete damit der Zuckerindustrie den Weg. 1753 gründete er das Chemie-Laboratorium der Akademie der Wissenschaften. Seine Schwester Charlotte Louise war die Schwiegermutter des Apothekers Valentin Rose d. Ä., auf die Rosesche Apotheke in der Spandauer Straße Ecke Heidereutergasse wird später noch eingegangen. Der Chemiker Martin Heinrich Klaproth (1743 - 1817) heiratete die Nichte Marggrafs und erwarb von ihm 1780 auch die Apotheke, die er jedoch 1800 wieder veräußerte, um sich ganz seinen wissenschaftlichen Untersuchungen zu widmen. Klaproth entdeckte in seinem Apothekenlabor sieben chemische Elemente, u. a. 1789 das Uran, 1792 Titan und 1793 Strontium. 1797 beschrieb er erstmalig das Element Chrom als Ergebnis von ca. 300 Mineral-Analysen. Er lehrte seit 1810 als Professor an der Berliner Universität. Eine Gedenktafel aus Porzellan rechts neben dem Durchgang von der Propststraße weist seit 1995 auf seine Verdienste hin, schließlich brachte er 1799 auch das erste Preußische Arzneibuch heraus. Im 19. Jahrhundert war die Apotheke als Simonsche Apotheke bekannt. Dr. Eduard Simon zählte 1865 zu den Gründungsmitgliedern des Vereins für die Geschichte Berlins.
Das Haus Nr. 35 (vor dem Kriege Teil des Hauses Nr. 18) kann als Ursprung des Salons von Henriette Herz (1764 - 1847) angesehen werden. Sie war Ehefrau des Arztes Marcus Herz, der in seiner Wohnung philosophische Abende veranstaltete und zum Kreis der Berliner Aufklärung gehörte , während seine junge schöne Ehefrau als Mittelpunkt eines literarischen Salons beeindruckte.[3] Wegen der räumlichen Enge verlegte Marcus Herz seine Wohnung und Praxis 1795 in die Neue Friedrichstraße 22. Dort erstreckt sich heute der Fußgängerbereich zwischen Fernsehturm und Bahnhof Alexanderplatz.
Die südöstliche Seite
Auf der Ostseite liefen früher die Grundstücksnummern vom Molkenmarkt (Nr. 45) bis zur heutigen Gustav-Böß-Str. (Nr. 50). 1704 lebte in Nr. 47 der Bankier Hertz Abraham Leffmann, in Nr. 48 die Witwe von Jacob Aron. Die von ihr verfügte Aronsche Stiftung sorgte für den Unterhalt und die Ausbildung jüdischer Knaben. Für alle Freunde der Schokolade wurde später die Nr.47-48 zur festen Adresse. Theodor Hildebrand (1791 - 1872) hatte mit seiner Leb- und Honigkuchenproduktion in einem Keller der Heiliggeiststraße einen so großen Erfolg, dass er ab 1817 zur Spandauer Straße ziehen musste. Hier kam die Produktion von Bonbons und ab 1830 Schokolade hinzu. Für die steigende Fabrikation erwarb die Firma 1884 ein Grundstück in der Weddinger Pankstraße und beschäftigte um die Jahrhundertwende als Weltfirma 2500 Arbeitskräfte. Das Firmenstammhaus in der Spandauer Straße wurde im zweiten Weltkrieg vollständig zerstört, der Betrieb in der Pankstraße zu 80%. Die älteste Berliner Schokoladenfabrik geriet 1968 in Zahlungsschwierigkeiten und wurde von Imhoff, später Stollwerck übernommen. Ihre 1935 auf den Markt gebrachte koffeinhaltige Zartbitter-Schokolade Scho-Ka-Kola wird noch heute im thüringischen Saalfeld hergestellt.
Das Haus Spandauer Straße 49 (später 23) unweit der heutigen Gustav-Böß-Straße war bis Anfang des 17. Jh. Stammhaus der Patrizierfamilie Blankenfelde, die seit 1287 im Berliner Rat nachweisbar über Jahrhunderte zur städtischen Führungsschicht gehörte. Sie besaß große Liegenschaften um Berlin (z. B. in Pankow und Weißensee), auch die Ortschaften Blankenfelde auf dem Barnim und dem Teltow erinnern an die früheren Eigentümer. Berlin verdankt Johann Blankenfelde eine Schleuse im Spreegraben und 1572 die erste Spreewasserleitung für eine Reihe von Handwerkern und Gewerbetreibenden.[4] Das Haus wurde im 17. Jahrhundert vom kurfürstlichen Berater Erasmus Seidel erworben, sein hier geborener Sohn Martin Friedrich Seidel (1621 - 1693) gilt als einer der Väter der brandenburgischen Geschichtsschreibung. Das alte Haus musste 1888 für den Bau eines Kraftwerkes der Bewag weichen. Bei den Abrissarbeiten wurde hinter einer Fassade des 18. Jahrhunderts eine einzigartige mittelalterliche Bausubstanz entdeckt. Auf Initiative von Mitgliedern des Vereins für die Geschichte Berlins konnten Konsolen, Formsteine und Ziersteine aus dem 15. Jahrhundert ausgebaut und dem Märkischen Museum übergeben werden. Die Büsten der geborgenen Konsolsteine zählen zu den ältesten Beispielen der Berliner Porträtplastik Die Ruine des Kraftwerkes wurde nach 1945 beseitigt, zur Zeit ist das Gelände noch Parkplatz, wird aber in den nächsten Jahren eine Neubebauung und die verschwenkte Fahrbahn der Grunerstraße aufnehmen.
Die gesamte Häuserzeile zwischen der heutigen Gustav-Böß-Straße und der Rathausstraße - darunter das alte Rathaus und die Gerichtslaube - wurde im 19. Jh. für den Neubau des Rathauses abgerissen.
Die nordöstliche Seite
Jenseits der Rathausstraße lagen um 1800 bis zur Bischofstraße die Grundstücke 56 bis 63. Das Landschaftshaus (Nr. 59) - Sitz der Ständeorganisation im monarchischen Staat - wurde im 18. Jh. wie folgt beschrieben: „Das große Landschaftshaus von 3 Etagen, ist mit schönen Seiten- und Hintergebäuden versehen, und wie der Augenschein zeiget, vor geraumer Zeit erbauet. Der Land-Rentmeister wohnet allhier beständig, und die Landschaft versammelt sich darinnen zu gewissen Zeiten jährlich."[5] 1876 tagte hier der nach der Provinzialordnung von 1875 gewählte erste Provinziallandtag von Brandenburg. Im Gebäudeareal wohnte auch viele Jahre Carl Ritter (1779 - 1859), seit 1825 erster Lehrstuhlinhaber für Geographie an der Berliner Universität und berühmt für sein umfangreiches, wenn auch unvollendet gebliebenes wissenschaftliches Hauptwerk „Erdkunde" mit 21 Bänden. Das benachbarte Haus Nr. 60 gehörte dem Bankiers Joseph Ephraim (1731 - 1786), zweiter Sohn des berühmten Münzpächters Nathan Veitel Ephraim (Palais Ephraim).
Das Haus Nr. 68 nördlich der Bischofstraße (seit 1924 Nr. 33) stand einst an der heute unbebauten Ecke Spandauer Straße /Karl-Liebknecht-Str., teilweise auf der jetzigen Fahrbahn und dem Bürgersteig auf der Fernsehturmseite. Es ist mit einer Reihe von berühmten Persönlichkeiten verbunden. Bis 1747 lebten hier nacheinander die Schriftsteller Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Karl Wilhelm Ramler. Ende 1748 nahm hier auch der junge Theologiestudent Gotthold Ephraim Lessing bei seinem Studienfreund Christlob Mylius vorübergehend Quartier. In dieser Zeit entstanden seine Lustspiele „Die Juden" und „ Der Freigeist", bevor er im Dezember 1751 die Stadt wieder verließ, um in Wittenberg den Magistertitel zu erwerben. Der spätere Verleger Friedrich Nicolai lebte in diesem Haus in der Wohnung seiner Mutter, bis er 1757 nach dem Tode seines Bruders dessen Buchhandlung übernahm.
Der berühmteste Bewohner war aber ohne Zweifel Moses Mendelssohn. Er bezog das Haus 1762 nach seiner Heirat mit Fromet Guggenheim. Bis 1763 hatte Mendelssohn als Jude in Berlin kein Wohnrecht, er war lediglich als „Bedienter" der Frau des Seidenwarenfabrikanten Bernard geduldet, die ihn nach dem Tode ihres Mannes auch als Teilhaber der Manufaktur aufnahm. Der Marquis d´ Argens erreichte bei Friedrich II, dass Mendelssohn 1763 den Status eines „Schutzjuden" bekam. Hier wurden seine Kinder Brendel (Dorothea), Recha, Joseph, Abraham, Henriette und Nathan geboren und hier entstanden seine wichtigsten philosophischen Schriften und die Bibelübersetzung. Es wurde durch die Zusammenkünfte mit Nicolai und Lessing zu einem der bedeutsamsten Häuser der Berliner Aufklärung. Die älteste Tochter Brendel ist noch heute als Schriftstellerin unter dem Namen Dorothea Schlegel bekannt. Ihr Bruder Joseph gründete hier 1795 mit zwei Angestellten das Privatbankhaus Mendelssohn, der Hauptsitz der zeitweise wichtigsten deutschen Privatbank lag seit 1815 in der Jägerstraße. Ab 1829 befand sich eine große Marmortafel am Haus Nr. 68 mit folgender Inschrift: „In diesem Hause lebte und wirkte Unsterbliches Moses Mendelssohn. Geb. in Dessau 1729. Gest. in Berlin 1786". Nach 1886 war die Tafel an der Hinterfront eines Neubaus, wanderte 1913 an ein falsches Gebäude und gelangte schließlich in den Keller Oranienburger Straße 28, wo sie 1987 entdeckt und dort auf dem Areal der früheren Neuen Synagoge und dem Centrum Judaicum ausgestellt ist. Eine weitere Metalltafel unter dem Balkon der 2. Etage erinnerte früher zusätzlich an den außergewöhnlichen Philosophen. Moses Mendelssohn hat nicht weit entfernt ein Ehrengrab auf dem jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße, der Grabstein wurde viermal erneuert und steht auch nur an der ungefähren Stelle seiner Bestattung.
Der Durchbruch der Kaiser-Wilhelm-Straße im 19. Jahrhundert veränderte das Umfeld des Hauses völlig. Jenseits der damaligen Papenstraße verschwand das Haus Nr.72, um 1800 im Eigentum von Liepmann Meyer Wulff. Der jüdische Kaufmann und Bankier galt bei seinem Tode 1812 als reichster Mann Berlins [7]. Seine Tochter Amalie heiratete Jacob Herz Beer, war Mutter des Komponisten Giacomo Meyerbeer und gründete einen berühmten literarischen Salon.
Überqueren wir die Karl-Liebknecht-Straße, so gelangen wir auf den jetzigen Grundstücken 2/4 zu einem 90 Meter langen zwischen 1968 und 1973 entstandenen Wohn- und Geschäftshaus. Das zu DDR-Zeiten bekannte Fischrestaurant „Gastmahl des Meeres" an der Ecke mutierte zum Palm Beach Restaurant der Nordsee-Kette;, in die zwei Etagen der Buchhandlung „Das internationale Buch" zog ein Frauen-Fitness-Center ein, unter Nr. 2 ist eine Buchhandlung zu finden. Gegenüber dem heutigen Heiligegeistkirchplatz mündete die Heidereutergasse in die Spandauer Straße. Das Eckhaus Nr. 77 (später Nr. 40) beherbergte die Apotheke „Zum Weißen Schwan", 1761 von Valentin Rose d. Ä. erworben, später vorübergehende Arbeitsstelle von Martin Heinrich Klaproth, Sigismund Friedrich Hermbstädt, Conrad Heinrich Soltmann und Johann Daniel Riedel, die alle in den Folgejahren die chemisch-pharmazeutische Forschung wesentlich voranbrachten. Theodor Fontane begann hier 1836 seine Lehre beim Apotheker Wilhelm Rose (1792 - 1847). Er bezog im Hinterhaus ein Zimmer und begann mit seinen ersten literarischen Versuchen. Fontane verließ 1840 Berlin und sein Lehrherr verkaufte die Apotheke 1845 nach ca. 80 Jahren im Familienbesitz. Die ambivalenten Beziehungen zu Rose hat Fontane in seiner Autobiografie „Zwischen Zwanzig und Dreißig" literarisch festgehalten.
Die Fundamente eines 1720 explodierten Pulverturmes konnten im Eckhaus Spandauer Straße/Neue Friedrichstraße (heute Anna-Louisa-Karsch-Straße) im Keller besichtigt werden, bevor das Haus nach 1945 abgerissen wurde. Unter der jetzigen Fahrbahn der verbreiterten Spandauer Straße kamen bei Ausschachtungsarbeiten für Fernwärmeleitungen 1995 die 700 Jahre alten Fundamentreste zum Vorschein, wurden aber von der beauftragten Firma beseitigt, ohne die Denkmalschutzbehörde zu benachrichtigen. Ein Mitarbeiter der beauftragten Firma erklärte, die Pulverturmreste seien von neuzeitlichem Mauerwerk überlagert und deshalb nicht erkennbar gewesen. Hier fehlte es schlicht an Kenntnissen über das historische Areal.
Der Wissende sieht eine Stadt wie ein offenes Geschichtsbuch.[8] Bemühen wir uns gemeinsam, das kollektive kulturelle Gedächtnis der Stadt zu bewahren.
Anmerkungen
- Hofmann, Michael, in Miscellanea Archaelogica II, Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin, Band 20, Berlin 2005, S. 186
- Adreß-Kalender der Kön..Preuß. Haupt-und Residentz-Städte Berlin und daselbst befindlichen Königl. Hofes auf das Jahr 1704, als Reprint 1999 im Verlag Schmidt-Römhild neu aufgelegt.
- Schirmer, Walter F.: Die große Jette - Henriette Herz und ihr Freundeskreis, in Jahrbuch 1975 des Vereins für die Geschichte Berlins, S. 92 - 115
- Verein für die Geschichte Berlins, Vermischte Schriften Band I, Berlin 1888, Tafel 1
- Küster, Georg Gottfried: Des Alten und Neuen Berlin, Dritte Abteilung, Berlin 1756, S. 67
- Rodenberg, Julius: Bilder aus dem Berliner Leben, Kapitel „Im Herzen Berlins" (April bis August 1886): ...auf Schritt und Tritt sieht man sich so von Häuserruinen und Brettergeländen umschränkt, dass man sich ordentlich freut, wenn man noch einem der gewohnten Anblicke begegnet - wer weiß, ob nicht auch ihm zum letzten Mal ? So das Haus Nr. 68 in der Spandauer Straße - das Haus der Mendelssohn. Da steht es noch, wie es gestanden hat vor hundert Jahren; der Baum freilich, unter welchem vor der Türe der gute Mann oftmals sinnend und sorgend in seinen letzten Jahren gesessen, ist nicht mehr da. Doch das Haus mit seinen vier Fenstern Front, seinen zwei bescheidenen Stockwerken und dem Dachkämmerchen darüber, der Schauplatz eines äußerlich stillen, aber an inneren Kämpfen reichen und trotzdem glücklichen Lebens, ist noch unverändert. Dieses Haus, heute gleichfalls am Rande des Abgrundes, der es wahrscheinlich verschlingen wird, nur noch zwei Häuser von dem Straßendurchbruch entfernt, sieht heute wohl mit seinen braunen, stark verwitterten Wänden ein wenig heruntergekommen aus gegen das, was es in meiner eigenen Erinnerung noch war; im Erdgeschoss ist ein Barbierladen, die Haustür steht offen, der Flur ist ausgetreten und die Gedenktafel über der Tür „Hier lebte und wirkte Unsterbliches Moses Mendelssohn etc." fast unleserlich geworden...."
- Rachel, Hugo/Wallich, Paul: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Band 2, Berlin 1967, S. 427
- Senatsbaudirektorin Regula Lüscher auf dem 23. Denkmaltag am 11. September 2009 im Alten Stadthaus.
Aus „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins" 1/2010