Berlin im September 1999
Einige Nachbemerkungen zur Schlesien-Reise des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, im Juli 1999
Die genannte Studienfahrt des Vereins gibt Veranlassung zu einer kurzen Rückbesinnung; denn anders als im vergangenen Jahr aus Danzig ist die Teilnehmergruppe mit zwiespältigeren Eindrücken heimgekehrt, die sie zunächst noch ratlos gelassen haben. Das prächtige Erscheinungsbild der Stadt Danzig konnte vordergründiger und überwiegend positiv eingeschätzt werden, hier aber wurde die Gruppe mit komplizierteren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen konfrontiert, zu denen auch die polnischen Stadtführer - außer in Breslau - nicht immer Überzeugendes sagen konnten.
Der Anblick der so schön wiederaufgebauten Städte, allen voran Breslau mit seinem südländisch anmutenden Flair, kontrastierte andernorts hart mit schwer verständlichen Vernachlässigungen, die leicht zu beheben gewesen wären, so meinte jedenfalls mancher. In Gesprächen hat man uns die jahrzehntelange wirtschaftliche Ausbeutung Polens durch die Sowjetunion entgegengehalten, die man in den Staaten des einstigen Ostblocks zu ertragen hatte. Dennoch scheinen viele Einzelbeobachtungen nicht recht dazu zu passen. Es scheint mehr Risse und Sprünge zu geben, als man anfangs ahnte. Eine Auseinandersetzung mit der polnischen Geschichte ist zur Klärung notwendig, und da ist jeder auf seine eignen Bemühungen angewiesen.
Als Einstieg dazu möge die Begegnung mit Schloß Kreisau und der dortigen Ausstellung über die Männer des Attentats vom 20. Juli 1944 dienen. Es war für uns wohl eine der bewegendsten Begegnungen nach 50 Jahren! Es war das Eintauchen in den Ort, an dem führende Geister des Widerstandes um die politisch und moralisch-ethische Berechtigung ihres Tuns rangen. Man ahnt die bedeutungsvoll-schmerzlichen Erörterungen und Gespräche, die hier geführt wurden. Kreisau ist heute ein Tagungsort für europäische Verständigung, so wie die Kreisauer damals aus Verantwortung für ein geläutertes Deutschland auch um ein friedliches Europa der Nachkriegszeit nachgedacht haben.
Die gut erschlossene Ausstellung mit dem Profil des Hausherrn von Kreisau, des Grafen Helmuth James von Moltke, wirkt wegen ihrer knappen Eindringlichkeit hilfreich. Sie bezieht auch die strukturell gleichgelagerte Widerstandshaltung des polnischen Volkeszwischen 1939 und der Wende von 1989 mit ein. Dabei gibt es eine beachtenswerte kleine Schrift zu studieren. - Als ein internationales Gremium für europäische Zusammenarbeit publizierte die " Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung" 1996 die Protokolle eines Symposiums "Maikonferenz der Stiftung Kreisau" ihrer Überlegungen zum Thema " Kriegsende - Vorstellungen und was daraus geworden ist".
Deutsche und polnische Historiker referierten; einige von ihnen sind Überlebende der Kreisauer Gespräche von 1943/44. Sie haben bald nach 1945 begonnen, das Vermächtnis der Opfer aufzuarbeiten, und führen es heute, bezogen auf internationale Zusammenarbeit, fort. - Wer also den anfangs angemerkten Widersprüchlichkeiten ratlos gegenübersteht, findet hier einige Grundwerte für seine eigenen Überlegungen.
Es fielen uns zuweilen in den Gesprächeft einige historische Ansichten als ein wenig illusionär und überzogen auf. Befragen wir die kleine Schrift, ergeben sich einige Streiflichter. Da sind vorweg die tiefgreifenden traumatischen Befindlichkeiten in der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die, weil wenig bekannt, den Außenstehenden immer wieder befremden. Ein gewisser Eifervieler polnischer Historiker verdrängt die Tatsache, daß der polnische Staat seit 1935 ähnliche totalitäre Züge angenommen hatte wie Hitler-Deutschland. Polen hegte die Fortsetzung von Pilsudskis Großmachtbewußtsein, das sich 1918 in der Äußerung niederschlug, Polen existiere entweder als Großmacht oder es lebe gar nicht. Im Zusammenhang damit standen die Richtlinien inder Außenpolitik seines Nachfolgers Joseph Beck, der davon träumte, Polen zur Vormacht über diekleineren ostmitteleuropäischen Staaten zu erheben, es könne dann ein drittes Europa zwischen Rußland und Deutschland bilden. Wie wenig das Unangemessene solchen Machttraumes auch in heutiger Sicht erkannt wird, scheint nur erklärlich aus der stolzen Befriedigung, erstmals wieder ein unabhängiger nationaler Staat Polen zu sein.
Ein zweiter Komplexist das Trauma, wies krupellos die Sowjetunion Polen mitgespielt hat. Da gibt es eine lange Kette von Demütigungen, die Polens Existenz gänzlich minderten. Genannt sei die Völkerwanderung, die der Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes auslöste. Ferner: während der deutschen Besetzung ignorierte die SU den Warschauer Aufstand von 1944; die Zerstörung der Stadt durch die Deutschen geschah fast unter den Augen der Sowjets, die nicht eingriffen. Hier kam zumTragen, daß sich seit 1941 eine starke Kluft zwischender polnischen Exilregierung und der SU aufgetan hatte. Sie suchte ebenso wie die deutsche Besatzung, durch Zwang und Terror die polnische Intelligenz und militärische Elite auszuschalten- stellvertretend dafür steht der Name Katyn. - In der Folge hatten die westlichen Alliierten in Jalta und Teheran die Westverschiebung der polnischen Grenze einfach verfügt, ohne die polnische Exilregierung zu konsultieren und informieren.
Eine weitere Umsiedlung hilfloser polnischer Bevölkerung wurde ausgelöst. - Man hatte schon bitter erdulden müssen, daß die Rote Armee alle Hoffnungen der polnischen "Befreiungsarmee" beiseite schob. Nun erlebte man, daß die westlichen Siegermächte es einfach hinnahmen, wie die SV in Polen ein gesellschaftliches System nach Moskauer Muster etablierte. Als die Polen sich wehrten, kämpften die alten Partisanen gegendie deutschen Besatzer nun gegen die Rote Armee; die Zahl der dadurch in sibirischen Lagern umgekommenen Opfer überstieg die der deutschen Sieger.
Das hier Angedeutete ist in vieler Hinsicht zu vertiefen. Es ergibt sich ein tragisches Geschichtspanorama. Seine Geltung und Größe ist vielfach entweder verdrängt oder unzulässig überzeichnet worden. Erst die deutsch-polnische Schulbuch-Kommission hat viele Übertreibungen und Vereinseitigungen von beiden Seiten auf ein Maß zurückgeführt und hat einsichtig gemacht, daß wir es mit einer Nation zu tun haben, die immer wieder zwischen seinen mächtigen Nachbarn zerrieben wurde und sich um die Früchte eigenen historischen Lebens betrogen fühlte, zuletzt durch die Tatsache, daß es den Zweiten Weltkrieg praktisch bis 1989 erlitten hat, obwohl es selbst das erste Opfer der deutschen Aggression war. Erst mit der Wende wurde sein Leben frei und friedlich, erst durch die Bestrebungen der Solidarität wurde das Fehlverhalten der Mächte revidiert. Vor einer möglichen Spaltung Europas innerhalb einer Nachkriegsordnung hatten die Kreisauer gewarnt und sich nachdrücklich gegen die stets latente Gewaltbereitschaft aller europäischen Staaten gewandt, die allen Opferwillen vergeblich machen könnten. Zieht man das Fazit des Symposiums,drängt sich dem Leser eine gewisse bittere Einsicht auf, wieviel von der tapferen Hoffnung der Kreisauer im allgemeinen Bewußtsein, der Deutschen wie der Polen, verblaßt ist und nur weniges in heutige Entscheidungen einfließt.
Christiane Knop
Mitteilungen, Heft 4, Oktober 1999