So wurde Berlin erste U-Bahn-Stadt Deutschlands
Zum hundertjährigen Bestehen der Berliner U-Bahn und zum Gedenken an den Berliner Verkehrspionier Gustav Kemmann
Von Peter C. Lenke -  Berlin, im März 2002

Siehe auch: Umfangreicher Artikel zur U-Bahn in Berlin auf Wikipedia

Wenn wir heute auf das hundertjährige Bestehen der Berliner U-Bahn - der ersten in Deutschland - zurückblicken, so muss vor allem des Mannes gedacht werden, der als Nestor der modernen Verkehrswissenschaft die Grundlagen dafür schuf, dass am 18. Februar 1902 die erste Strecke dieses neuen Verkehrsmittels eröffnet werden konnte. Der Geheime Baurat Dr. Ing. e.h. Gustav Kemmann (1858 bis 1931) war nicht nur der Wegbereiter für den Bau und Betrieb der ersten U-Bahnstrecke Deutschlands, er förderte auch gegen mancherlei Widerstände die moderne technische Ausstattung des Berliner U-Bahnnetzes durch Einführung des selbsttätigen Signalsystems, arbeitete frühzeitig auf eine Vereinheitlichung des Berliner Nahverkehrsnetzes hin und blieb dem Berliner Nahverkehr mehr als dreißig Jahre bis zu seinem plötzlichen Tod im Jahr 1931 als Mentor eng verbunden.

Der Bau der ersten Berliner Hoch- und Untergrundbahnstrecke war damals gleichermaßen eine ingenieurmäßige, städtebauliche, verkehrstechnische und wirtschaftliche Großtat, die stärkste Wirkungen auf die Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs ausübte und das Berliner Schnellbahnnetz schon frühzeitig zum tragenden Element der Personenbeförderung machte. Wenn sich inzwischen viele Großstädte zur Lösung ihrer innerstädtischen Verkehrsprobleme in die Reihe der historischen U-Bahn-Städte stellten, so zeigt dies nur, wie weit vorausschauend die Ideen waren, die damals in Berlin nicht ohne Schwierigkeiten verwirklicht wurden.

Die Vorgeschichte
Begonnen hatte alles mit der Erfindung des Elektromotors durch Werner von Siemens im Jahre 1866. Dieser, ein Berliner Bürger, war nicht nur Erfinder, sondern auch Ingenieur, der an die praktische Nutzanwendung dieser Erfindung dachte. 1879 stellte er auf der Berliner Gewerbeausstellung eine kleine elektrisch betriebene Rundbahn der Öffentlichkeit vor, hatte aber von Anfang an die Idee von einem "Netz hängender elektrischer Eisenbahnen auf den Straßen Berlins". Schwierigkeiten bei den Genehmigungsanträgen führten dazu, dass zunächst im Jahr 1882 in Lichterfelde bei Berlin die erste elektrische Straßenbahn der Welt als eine "von ihren Brücken heruntergenommene Hochbahn" - wie Siemens sie nannte - verwirklicht wurde.

Das 1880 von Siemens zunächst vorgelegte Projekt einer elektrischen Hochbahn in der Friedrichstraße fand ebensowenig die Zustimmung der Behörden wie eine in der Leipziger Straße vorgesehene Hochbahn. Trotzdem legte er 1891 bereits ein neues Bahnprojekt vor, das mehrere teils als Hochbahn und teils als Unterpflasterbahn (wie Siemens die U-Bahn seinerzeit nannte) geführte Linien umfasste. Zu diesem bereits in Normalspur vorgesehenen Projekt gehörte neben einer später fallengelassenen Nord-Süd-Verbindung eine Ost-West-Strecke von der Warschauer Brücke bis zum Zoologischen Garten mit einer Abzweigung zum Potsdamer Platz. Für diese Strecke wurde vorerst eine Genehmigung beantragt.

Städtebauliche und wirtschaftliche Bedenken
Die Verhandlungen zur Genehmigung des von Siemens beabsichtigten Bahnprojekts führten jedoch zu keinem Ergebnis. Lediglich für die Hochbahnstrecke von der Warschauer Brücke bis zum Zoologischen Garten mit der Abzweigung vom Gleisdreieck zum Potsdamer Platz wurde der Firma Siemens & Halske am 15. März 1896 eine staatliche Genehmigung erteilt. Sie schrieb vor, dass die Fahrgeschwindigkeit 50 km/Std. nirgends überschritten werden dürfe. Dies war aber gegenüber den vorhandenen öffentlichen Verkehrsmitteln bereits ein deutlicher Fortschritt.

Die Schwierigkeiten, die der Erteilung von Genehmigungen für Hoch- und Untergrundbahnen damals entgegenstanden, hatten mehrere Gründe: Man befürchtete, dass der Schwemmsand des Berliner Untergrundes für den Bahnbau wenig geeignet sei und die Bauarbeiten zu Störungen an der gerade erst fertiggestellten Kanalisation führen könnten.

Auch glaubte man, dass eine Hochbahn die Straßen verdunkeln und zu einer städtebaulich unbefriedigenden Lösung führen würde. Diese Bedenken schlugen sich in entsprechenden Auflagen nieder. Für das 1896 staatlich genehmigte Bahnprojekt waren aber noch besondere Genehmigungen der beteiligten Gemeinden erforderlich. So erklärte sich die Stadtgemeinde Charlottenburg mit dem Bau der Schnellbahn überhaupt nur dann einverstanden, wenn diese vom Nollendorfplatz ab als Untergrundbahn geführt würde. Nachdem der Firma Siemens & Halske durch Zustimmungsverträge von den Stadtgemeinden Berlin und Schöneberg bereits 1895 die Genehmigung erteilt worden war, folgte ihnen 1896/97 aber auch die Stadtgemeinde Charlottenburg nach.

Das nun genehmigte Projekt sah wie folgt aus: Am Bahnhof Warschauer Brücke sollte die Strecke als Hochbahn beginnen und über die Haltestellen Stralauer Tor (heute aufgehoben), Schlesisches Tor, Görlitzer Bahnhof, Kottbusser Tor, Prinzenstraße, Hallesches Tor, Möckernbrücke und Bülowstraße zum Bahnhof Nollendorfplatz führen, von wo aus sie über eine Rampe als Untergrundbahn verlaufen und nach dem Bahnhof Wittenbergplatz den Bahnhof Zoologischer Garten erreichen sollte.

Zwischen den Bahnhöfen Bülowstraße und Möckernbrücke sollte über ein Gleisdreieck von beiden Richtungen der Hochbahnstrecke aus die Abzweigung zum Potsdamer Platz erfolgen. Diese war wiederum als Untergrundbahn vorgesehen.
Nicht nur Bau und Betrieb der U-Bahn warfen Probleme auf, sondern ebenso die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Fragen. Machten schon die großen Kapitalien, die in den U-Bahnbau investiert wurden, das Unternehmen zu einem wirtschaftlichen Risiko, so war die entscheidende Frage, ob die neue Bahn sich gegenüber den anderen öffentlichen Verkehrsmitteln behaupten und auf Dauer rentieren würde.

Anfrage der Deutschen Bank
Nachdem der Bankier Georg von Siemens, ein Vetter des Werner von Siemens, im Jahr 1870 die Deutsche Bank gegründet hatte, nahm diese sich in der Folgezeit der Finanzierung in- und ausländischer Bahnprojekte und so auch des Berliner Vorhabens an. Als Voraussetzung für den Einstieg in eine solche Finanzierung musste zunächst Klarheit über die bauliche, verkehrliche und vor allem die wirtschaftliche Einschätzung des Projektes und die damit verbundenen Risiken gewonnen werden.

Gustav Kemmann, seit 1890 in Berlin und ab 1897 in dem von ihm bis zu seinem Tode bewohnten Haus in der Wernerstraße 12 in der Villenkolonie Grunewald ansässig (heute Residenz des spanischen Botschafters), hatte zu dieser Zeit schon durch einige Studien über das städtische Verkehrswesen die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich gelenkt. So hatte er als Ergebnis einer Studienreise nach England das preisgekrönte Werk über den Verkehr Londons verfasst und für die Deutsche Bank bereits die Begutachtung der argentinischen Nordostbahn übernommen. Daher wandte sich die Deutsche Bank wegen der Beurteilung des Berliner Bahnprojektes nun an Gustav Kemmann.

In jenem denkwürdigen Schreiben vom 25. April 1896, das Kemmann für immer mit dem Berliner Verkehrswesen verbinden sollte, heißt es: "Wir studiren augenblicklich das Project der Herren Siemens und Halske betreffend den Bau einer elektrischen Stadtbahn in Berlin und hegen den Wunsch, uns über dieses Unternehmen, namentlich in Bezug auf die Verkehrsziffern, die man von demselben erwarten darf, mit einem so hervorragenden Kenner der Verkehrs- und Transport-Verhältnisse in großen Städten wie Sie es sind, zu besprechen."

Die Pionierleistung Kemmanns
Gustav Kemmann fiel damit die Aufgabe zu, eine Verkehrsprognose für das neue Bahnprojekt zu erstellen, was damals absolutes Neuland bedeutete. Durch Verkehrsbeobachtung, systematische Untersuchung der bestehenden Verkehrsströme und detaillierte Berechnungen hat Kemmann zunächst den Übergangsverkehr von den vorhandenen Verkehrsmitteln ermittelt, wobei ihn seine Frau tatkräftig unterstützte, indem sie immer wieder mit der Straßenbahn die in Frage kommenden Linien abfuhr und an den Haltestellen die ein- und aussteigenden Fahrgäste zählte.

Weiterhin errechnete Kemmann den von der Bevölkerungszahl her möglichen Neuverkehr. Auf manuelle Weise und durch Intuition - oder mit einem ausgesprochenen Fingerspitzengefühl für den städtischen Verkehr, wie Zeitgenossen rühmten - hat er damit sozusagen aus dem Nichts das vorweggenommen, was die Verkehrsplaner heute mit computergestützten Modellrechnungen in aufwendigen Rechenverfahren ermitteln.

Auf diese Weise hat Kemmann das Verkehrsaufkommen für die neue U-Bahn mit einer solchen Treffsicherheit prognostiziert, die noch heute Bewunderung erweckt. Er hatte damit - wie es der Berliner Lokal-Anzeiger später in einem Artikel zum dreißigjährigen Bestehen der Berliner U-Bahn ausdrückte - das "Geheimnis der Verkehrs-Mathematik" entdeckt und gelöst. Die von ihm vorausberechneten Fahrgastzahlen auf den einzelnen Stationen und auch insgesamt waren fast identisch mit den 1903 gezählten. So hatte Kemmann für das erste Betriebsjahr 22,5 Millionen Fahrgäste vorausgeschätzt; gezählt wurden 1903 exakt 22,664 Millionen.

Die Pionierleistung Kemmanns, Ergebnis immensen Fleißes und genialer Intuition, wird vor allem an einem deutlich: Trotz wesentlich verfeinerter Methoden und des Einsatzes der EDV ist es heute kaum möglich, Verkehrsprognosen mit ähnlicher Genauigkeit aufzustellen. Ein Zeitgenosse Kemmanns, der an der Technischen Hochschule Berlins lehrende und in Fachkreisen weithin bekannte Geheime Baurat Wilhelm Cauer, hat es später in einem Nachruf so ausgedrückt: "Eine große Aufgabe erfüllte Kemmann ganz. Was dann auf Grund sorgsamster und sachkundigster Vorarbeit in kühnem Gedankenschwung aus seinem Innern gefördert wurde, beruhte auf einer Art künstlerischer Intuition, die ihn mit meisterhafter Sicherheit zum richtigen Ergebnis führte."

Die Eröffnung am 18. Februar 1902
Nachdem Kemmann so die Wirtschaftlichkeit der neuen U-Bahn nachgewiesen hatte - das genaue Eintreffen seiner Prognosezahlen zeigte sich ja erst nach einem Jahr des Betriebes - begannen am 10. September 1896 die Bauarbeiten. Gustav Kemmann wurde so zum Wegbereiter für den Bau der ersten U-Bahn in Deutschland. Im Laufe des ersten Jahres wurden noch die Grundmauern für die 3,5 km lange Strecke vom Schlesischen Tor bis zum Halleschen Tor ausgeführt; ab Juni 1897 folgte der Aufbau der Eisenkonstruktionen. Am 13. April 1897 wurde - um das neue Unternehmen künftig auf eine breitere wirtschaftliche und finanzielle Basis zu stellen - unter Beteiligung der Firma Siemens & Halske und der Deutschen Bank die "Gesellschaft für elektrische Hoch- und Untergrundbahnen in Berlin", kurz die Hochbahngesellschaft, gegründet.

Der ursprünglich zum Ende des Jahres 1900 vorgesehene Eröffnungstermin der Hochbahn konnte nicht eingehalten werden, da nach Ablehnung der oberirdischen Führung auf Charlottenburger Gebiet erst neue Pläne für eine Untergrundbahn aufgestellt und genehmigt werden mussten. Bei den Tunnelarbeiten bildete sich bereits das später als "Berliner Bauweise" bekannt gewordene Bauverfahren mit offener Baugrube heraus. 1901 wurden die Rohbauarbeiten für die Hoch- und Untergrundbahn auf der Stammstrecke von Warschauer Brücke bis zum Zoologischen Garten mit der Abzweigung zum Potsdamer Platz fertiggestellt. Danach begann die Ausrüstung mit den notwendigen Betriebseinrichtungen und die Anlieferung des Wagenparks. Nach Inbetriebnahme eines inzwischen errichteten besonderen Hochbahnkraftwerks in der Trebbiner Straße begann im Herbst 1901 der Probebetrieb.

Am 15. Februar 1902 fand auf der ersten 5 km langen Bahnstrecke von der heute nicht mehr bestehenden Haltestelle Stralauer Tor bis zum Potsdamer Platz eine Sonderfahrt unter Führung des damaligen preußischen Ministers für öffentliche Arbeiten statt, an der auch Kemmann teilnahm. Auf diese als sog. Ministerfahrt in die Geschichte eingegangene Fahrt folgte am 18. Februar 1902 die offizielle Eröffnung der ersten Hochbahnstrecke vom Stralauer Tor über Gleisdreieck bis zum Potsdamer Platz. Damit war Berlin nach London, Budapest, Glasgow und Paris die fünfte U-Bahn-Stadt der Welt.

Schon am 11. März 1902 folgte die Inbetriebnahme der Strecke vom Potsdamer Platz zum Zoologischen Garten. Schließlich wurde am 25. März der Durchgangsverkehr vom Stralauer Tor über das Gleisdreieck bis zum Zoologischen Garten aufgenommen und im August die kurze Endstrecke vom Stralauer Tor bis zur Warschauer Brücke eröffnet. Noch im gleichen Jahr wurde auch die Verlängerungsstrecke vom Zoologischen Garten bis zum Knie (heute Ernst-Reuter-Platz) in Betrieb genommen. Damit umfasste die Betriebslänge der Berliner U-Bahn bereits in ihrem Eröffnungsjahr 11,2 Kilometer.

Die weitere Entwicklung
Bereits 1897 hatte sich die Deutsche Bank die Beratungsdienste dieses Pioniers auf dem Gebiet des städtischen Verkehrswesens quasi in einem Exklusivvertrag gesichert. Dieser sah vor, dass Kemmann sich der Hochbahngesellschaft von deren Gründung ab als "consultirender Ingenieur" zur Verfügung stellen und in dieser Eigenschaft in erster Linie den Bau der Bahnanlagen überwachen sollte. Ferner sollte er die Gesellschaft "in allen Angelegenheiten beraten, in denen diese seine Mitwirkung wünscht." Darüber hinaus sollte Kemmann auch noch der Deutschen Bank "als Sachverständiger für dem Verkehr gewidmete Unternehmungen jeder Art im In- und Ausland" zur Verfügung stehen. Das bedeutete ein gewaltiges Arbeitspensum, in dessen Mittelpunkt aber der Aufbau des Berliner U-Bahnnetzes stand.

Schon 1906 wurde die alte Stammstrecke vom Knie durch die Bismarckstraße bis zum Wilhelmplatz (heute Richard-Wagner-Platz) verlängert, 1908 kamen die Westendstrecke bis zum Reichskanzlerplatz und die Verlängerung vom Potsdamer Platz bis Spittelmarkt hinzu. Nach einem tragischen Unfall im Jahre 1908 am Gleisdreieck wurde dieses nun entsprechend einem bereits von Kemmann für die Hochbahngesellschaft erstellten Entwurf umgestaltet und erhielt seine heutige Form. Zwei Jahre später wurde die Schöneberger Bahn eröffnet.

Weitere Impulse gingen dann von dem Ideen-Wettbewerb Groß-Berlin unter dem Motto "Denk an künftig" aus. Der Entwurf, den der Stadtbaurat Prof. Brix zusammen mit der Hochbahngesellschaft unter maßgeblicher Beratung von Kemmann 1911 vorlegte, wurde mit einem ersten Preis bedacht. Inzwischen hatte sich Kemmanns Ruf national wie international außerordentlich gefestigt. Sein Rat wurde daher in der Folgezeit nicht nur in Berlin, sondern auch von zahlreichen Städten des In- und Auslandes wie Hamburg, Köln, Wien, London, New York, Buenos Aires, Boston und Rotterdam in Anspruch genommen.

Schwerpunkt seiner Tätigkeit blieb aber das Verkehrswesen Berlins und insbesondere die weitere Entwicklung des Berliner U-Bahnnetzes. Der Berliner Oberbürgermeister Martin Kirschner (1898 bis 1912) förderte den Bau der Hoch- und Untergrundbahn nachhaltig und bediente sich dabei des Rates von Kemmann. Bereits 1913 wurden die Streckenverlängerungen von Spittelmarkt über Alexanderplatz zur Schönhauser Allee, die Dahlemer Bahn von Wittenbergplatz bis Thielplatz, die Kurfürstendammbahn bis zur Uhlandstraße und auch die Streckenverlängerung vom Reichskanzlerplatz zum Stadion dem Verkehr übergeben. An die erstgenannte Streckeneröffnung erinnert noch heute eine Gedenktafel auf dem U-Bahnhof Klosterstraße, auf der sich Reliefs der führenden Köpfe der Berliner U-Bahn-Geschichte - darunter auch von Gustav Kemmann - befinden.

Die Folgezeit war durch den Ersten Weltkrieg und die damit verbundenen Schwierigkeiten geprägt. Dennoch wurde Kemmann 1916 damit beauftragt, für die städtische Nordsüdbahn (heutige U-Bahnstrecke Seestraße - Hermannplatz) "die Aufstellung der technischen Vertragsbedingungen für die Ausschreibung der Signal- und Stellwerksanlagen vorzunehmen, eingehende Angebote zu überprüfen, die Grundlagen über die Anordnung der Signale zu schaffen einschließlich der Untersuchungen über die Zugfolge und Fahrplanbildung, einen Signalplan für die Strecke aufzustellen, die Schaltungen zu überprüfen, die Ausführung der Signal- und Stellwerksanlagen zu beaufsichtigen, Vorsorge für die Ausbildung des in den städtischen Bahndienst eintretenden ersten Personals zu treffen und schließlich den Signalbetrieb nach Eröffnung zu überprüfen."

Kemmann setzte sich dabei nachdrücklich und gegen mancherlei Widerstände aus konservativen Technikerkreisen für die Einführung des selbsttätigen Signalsystems ein und berücksichtigte bei der Berliner U-Bahn gegenüber den Londoner Anlagen bereits deutliche Verbesserungen.

Nach dem Ersten Weltkrieg ergaben sich für die Weiterentwicklung der Berliner U-Bahn erneute Schwierigkeiten. Obwohl sich 1920 durch die Bildung der Stadtgemeinde Groß-Berlin die Rahmenbedingungen hierfür vereinfachten und auch der Berliner Oberbürgermeister Gustav Böß (1921 bis 1930) eine vorausschauende Verkehrspolitik als die beste Wirtschaftsförderung ansah, kennzeichneten doch Geldnot und die große Inflation das Geschehen.

Kemmann erhielt daher 1921 von der Stadt Berlin den Auftrag für ein Gutachten über "die Wirtschaftlichkeit der Nordsüdbahn zum Zwecke der Finanzierung des Fertigbaus". Hierin sollte er die Fragen klären, ob "ein Liegenlassen des Baus - auch teilweise - mit den Verkehrsbedürfnissen vereinbar sei, welche Kosten für evtl. Sicherungsarbeiten bei Baueinstellung aufzuwenden wären und welche Kosten demgegenüber die Fertigstellung verursachen würde, welche Kapitalien aufzuwenden seien und welcher Betrag zu verzinsen wäre".

Außerdem sollte er "die Entwicklung des Verkehrs auf der Nordsüdbahn abschätzen, ermitteln, welcher Tarif in Frage kommt und welche Einnahmen zu erwarten seien bzw. welche Kapitalverzinsung sich ergäbe". Im gleichen Jahr erhielt Kemmann von Oberbürgermeister Böß, der die verkehrspolitischen Chancen aus der Bildung der Stadtgemeinde Berlin nutzen wollte, auch noch den Auftrag, "die Möglichkeit einer Interessen-Gemeinschaft zwischen den verschiedenen Verkehrsunternehmungen Berlins" zu untersuchen. Mit dieser Arbeit leistete Kemmann einen wesentlichen Beitrag zur späteren Vereinheitlichung des Berliner Nahverkehrsnetzes.

Vielfältige Ehrungen
Auch vergleichsweise kleinen Problemen schenkte Kemmann seine Aufmerksamkeit: So geht die heute selbstverständliche Ausstattung der Türen aller U-Bahn-Wagen mit durchgehenden Gummileisten und einer entsprechenden Schließvorrichtung auf ein Patent Kemmans "zur Verhütung von Körperverletzungen durch Einklemmen beim Schließen der Türen" zurück.
Bei seinen vielfältigen Tätigkeiten für die Entwicklung des städtischen Nahverkehrs in Berlin und in der Welt wurden Gustav Kemmann auch zahlreiche Ehrungen zuteil: 1911 wurde er in den Architektenverein zu Berlin aufgenommen.

Im gleichen Jahr erfolgte die Verleihung des "Großen Preises der Internationalen Eisenbahn- und Verkehrsausstellung Buenos Aires". Zwei Jahre später wurde er zum Geheimen Baurat ernannt. 1918 verlieh ihm die Technische Hochschule Charlottenburg "in Anerkennung seiner hervorragenden Verdienste um die wissenschaftliche Erkenntnis der Betriebs- und Verkehrsleistungen und der wirtschaftlichen Daseinsbedingungen der städtischen Verkehrsmittel sowie um die hieraus sich ergebende praktische Förderung des städtischen Verkehrswesens" die akademische Würde eines Doktor-Ingenieurs ehrenhalber. Auf Vorschlag des Preußischen Ministers für öffentliche Arbeiten wurde Kemmann 1919 zum "außerordentlichen Mitglied der Akademie des Bauwesens" berufen. Die ihm 1914 angetragene Professur an der Technischen Hochschule musste Kemmann auf Grund seiner vielfältigen Verpflichtungen und bei der Gründlichkeit, mit der er jede Aufgabe anging, jedoch aus Zeitmangel ablehnen.

Das letzte Werk
Die Eröffnung der Nordsüdbahn in den Jahren 1923/24 sowie die weiteren Verlängerungen des Berliner U-Bahnnetzes zwischen 1926 und 1930 bis nach Tempelhof (Südring) bzw. zur Grenzallee, von Thielplatz bis Krumme Lanke und nach Ruhleben, ferner die Strecke nach Friedrichsfelde und die Verlängerung bis Pankow (Vinetastraße) hat Kemmann noch erlebt und mitgestaltet. Sein letztes großes Gutachten für die inzwischen gegründete Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft (BVG) "zur Frage der Tarif- und Verkehrsgestaltung" konnte er Anfang Februar 1931 gerade noch abschließen.

Ahnungsvoll hat er dabei zu einem Freund geäußert: "Das ist mein umfangreichstes Gutachten, das ich je gemacht habe; es wird mein letztes sein." Noch am Abend des 8. Februar 1931 machte er vor dem Hintergrund der großen Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeit eine letzte Notiz, die da lautet: "Die BVG und die Stadt Berlin sollten es sich zehnmal überlegen, ob an Stelle einer durchgreifenden, wenn auch nicht allseits bequem empfundenen Tarifreform Angestellten-Entlassungen treten sollen." Am nächsten Morgen, dem 9. Februar 1931, als Kemmann einem englischen Signalfachmann Berlin und die Neuerungen des selbsttätigen Signalsystems der Berliner U-Bahn zeigen wollte, erlag er während einer Straßenbahnfahrt in Begleitung seines Gastes plötzlich einem Herzschlag.

Die Erinnerung
Große Erschütterung herrschte in Berlin und in der Welt über den plötzlichen Tod Kemmanns. "Die vielfältigen Beziehungen, die Geheimrat Kemmann zur Stadt dank seiner tiefschürfenden, auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhenden Durchdringung der großstädtischen Verkehrsprobleme unterhielt", schrieb der damalige Amtierende Oberbürgermeister Arthur Scholtz (1929 bis 1931), "sichern dem unerwartet aus dem tätigen Leben geschiedenen Manne bei der Stadt Berlin ein allzeit ehrendes Gedenken."

Der Stadtrat für Verkehr Ernst Reuter, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Regierender Bürgermeister von Berlin (West) weltbekannt geworden ist, erinnerte daran, in welch außerordentlichem Maße Kemmann in jahrzehntelanger Arbeit mit der Entwicklung des Berliner Verkehrswesens verbunden war und wie sehr alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben, seine großen Leistungen geschätzt und respektiert haben und versicherte, dass "das Andenken an Kemmann stets in höchsten Ehren gehalten und sein Name mit der Entwicklung des Berliner Verkehrswesens für immer verbunden bleiben wird".

Durch seine Pionierleistung und die daran anschließende fast 35 Jahre währende Berliner Tätigkeit wurde der Geheime Baurat Dr.-Ing. e.h. Gustav Kemmann zwar nicht zum alleinigen, wohl aber zum wichtigsten Vater der Berliner U-Bahn und zudem zum Mentor des gesamten Berliner Nahverkehrs. Ohne die Berechnungen Kemmanns wäre das neue Bahnprojekt von Siemens in Berlin - zumindest vorerst - wohl nicht verwirklicht worden.

Gustav Kemmann, einer der hervorragendsten und national wie international hochgeschätzten Verkehrsfachleute seiner Zeit, war als Mensch eine sachlich vornehme Natur, persönlich von fast beispielloser Bescheidenheit und von einem äußerst liebenswürdigen, stets hilfsbereiten Wesen. Zu seinen Freunden zählte der erste Direktor der Hochbahn-Gesellschaft Paul Wittig, der wie er in der Villenkolonie Grunewald lebte, und der Direktor der Deutschen Bank, Max Steinthal. Seine letzte Ruhe hat er auf dem Friedhof beim Krematorium Wilmersdorf gefunden.

Die Erinnerung an Kemmann sollte durch eine am 9. Februar 1932, seinem einjährigen Todestag, enthüllte bronzene Gedenktafel auf dem U-Bahnhof Alexanderplatz wachgehalten werden. Sie wurde jedoch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, als das Hitlerregime den "totalen Krieg" proklamierte, entfernt und - wie so manche Kirchenglocke auch - zu Rüstungszwecken eingeschmolzen.

Zum hundertjährigen Bestehen der Berliner U-Bahn wird nun aber in diesem Jubiläumsjahr eine Replik dieser Gedenktafel am gleichen Ort enthüllt werden. Im Bezirk Spandau erinnert der Kemmannweg an die Verdienste des Berliner Verkehrspioniers. Wiederholt wurde auch in der Fachpresse gewürdigt, was Gustav Kemmann in seiner einmaligen Art der Verkehrswissenschaft und dem städtischen Verkehrswesen insgesamt gegeben hat.

Anmerkungen und Quellenhinweise:
Der Verfasser, Beratender Ingenieur und speziell mit dem öffentlichen Nahverkehr befasst, ist ein Enkel von Geheimrat Kemmann. Fasziniert von der Arbeit und den Leistungen seines Großvaters ergriff er denselben Beruf wie dieser und war u.a. bis 1974 bei den Berliner Verkehrs-Betrieben (BVG) als Leiter der Verkehrsplanung tätig. Hier schaltete er sich maßgeblich in die Nahverkehrsplanung Berlins unter der Problematik der damals geteilten Stadt ein. Später war er als selbständiger Beratender Ingenieur im In- und Ausland tätig und lebt heute bei Hamburg.
Die Darstellung im vorstehenden Artikel basiert überwiegend auf bisher unveröffentlichten Dokumenten aus dem Familienarchiv Lenke-Kemmann, zu denen auch Veröffentlichungen Kemmanns sowie Berichte und Artikel aus der damaligen Tages- und Fachpresse gehören.

Außerdem wurden folgende Quellen herangezogen:
Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG): 50 Jahre Berliner U-Bahn, 18. Februar 1902 bis 1952, Berlin, 1952
Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Stadtoberhäupter, Biographien Berliner Bürgermeister im 19. und 20. Jahrhundert, Stapp Verlag Berlin, 1992

Aus: "Mitteilungen" 2/2002