Ferdinand Friedensburg und seine Pionierstudie zur Weimarer Republik.
Eine Erinnerung an Autor und Werk nach 60 Jahren

Wer sich heute über die Geschichte der Weimarer Republik informieren will, der kann gewiss nicht über einen Mangel an historischen Darstellungen klagen. Ganze Bibliotheken ließen sich inzwischen mit Büchern zu diesem Abschnitt der deutschen Geschichte füllen.

In der Anfangsphase der Bundesrepublik sah dies jedoch ganz anders aus. Erst ab Mitte der 50er Jahre begann die westdeutsche Geschichtswissenschaft, sich der ersten deutschen Demokratie in größerer Intensität zuzuwenden. Als Meilenstein gilt noch heute die 1955 erschienene, methodisch wie inhaltlich bahn brechende Studie „Die Auflösung der Weimarer Republik“ des Politikwissenschaftlers Karl Dietrich Bracher. [1]

Demgegenüber sind die früheren, weitgehend von Außenseitern der Fachwissenschaft geleisteten Versuche, die Zeit von 1918 bis 1933 aufzuarbeiten, weitgehend in Vergessenheit geraten. Die erste Gesamtdarstellung, die nach Kriegsende in Deutschland publiziert werden konnte, erschien 1946 in der Berliner Verlagsbuchhandlung Carl Habel. Es war gleichzeitig das erste Buch, das überhaupt den Titel „Die Weimarer Republik“ trug. Denn die im Exil erschienenen Darstellungen und Erinnerungen nutzten noch weitgehend die Eigenbezeichnung des Weimarer Staates, die „Deutsche Republik“. [2] Geschrieben wurde diese Pionierstudie von Ferdinand Friedensburg, dem damaligen Präsidenten der Deutschen Zentralverwaltung der Brennstoffindustrie in der Sowjetischen Besatzungszone. Der Autor war eine für die Nachkriegsgeschichte Berlins bedeutende Persönlichkeit. Denn der CDU-Politiker leitete 1948 in den kritischen Tagen der Berlin-Blockade als amtierender Oberbürgermeister die Geschicke der Stadt. [3] 60 Jahre danach mag es an der Zeit sein, an Werk und Autor zu erinnern.

Preußischer Beamter und bürgerlicher Politiker
Ferdinand Friedensburg gehörte zu den „Weimarer“ Politikern, deren Karriere 1933 ein abruptes Ende genommen hatte, die aber nach 1945 wieder in Führungspositionen einrückten. Ihr Einfluss auf den demokratischen Wiederaufbau wird bis heute leicht unterschätzt. Dabei lässt sich die große Mehrzahl der den politischen Neubeginn prägenden Männer und Frauen dieser Gruppe zuordnen. Konrad Adenauer war bekanntermaßen vor 1933 Oberbürgermeister von Köln und Präsident des Preußischen Staatsrates gewesen. Die Vorsitzenden von SPD und FDP, Kurt Schumacher und Theodor Heuss, waren ehemalige Reichstagsabgeordnete. Allerdings gilt diese Kontinuität nicht für diejenigen, deren Namen allzu eindeutig mit der Weimarer Republik verbunden waren. Politiker wie etwa die ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning, Joseph Wirth und Hans Luther oder die Sozialdemokraten Otto Braun und Carl Severing konnten keine bedeutende Rolle mehr spielen.

Als Friedensburg im Februar 1933 von seinem Posten als Regierungspräsident in Kassel beurlaubt wurde, hatte er bereits eine steile Karriere hinter sich. Ende 1920 war der Vierunddreißigjährige als Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) zum Landrat im Kreis Rosenberg in Westpreußen ernannt worden. Dies war der Kreis, in dem der berüchtigte Elard von Oldenburg-Januschau residierte. Auch Gut Neudeck lag dort, der dem greisen Feldmarschall später von der deutschen Industrie geschenkte Stammsitz der Familie von Hindenburg. Als Spross einer traditionellen preußischen Beamtenfamilie besaß Friedensburg genug bürgerliches Selbstbewusstsein, um es mit dem „alten Januschauer“ aufzunehmen, der im Kaiserreich den markigen Spruch geprägt hatte, der Kaiser müsse jederzeit zu einem Leutnant sagen können: „Nehmen Sie zehn Mann und lösen Sie den Reichstag auf“.

Nichts fehlte dem Weimarer Staat so sehr wie tüchtige Beamte mit demokratischen Überzeugungen. Man wurde daher schnell auf den jungen Landrat aufmerksam. 1925 wurde er Vizepräsident des Berliner Polizeipräsidiums und leitete damit de facto einen Verwaltungsapparat mit 22.000 Mitarbeitern. In seiner neuen Funktion deckte er 1926 ein politisches Komplott auf, den nach dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, benannten „Claß-Putsch“. Vertreter der extremen Rechten hatten kurz nach der Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten geplant, die Demokratie mithilfe der präsidialen Notstandsvollmachten des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung zu Fall zu bringen. Da man in Hindenburgs Umfeld über die Enthüllung dieser Pläne nicht eben erfreut war, wurde Friedensburg bereits Anfang 1927 auf das persönliche Ersuchen des Reichspräsidenten hin zum Regierungspräsidenten von Kassel befördert und damit aus dem Brennpunkt der politischen Entwicklung entfernt. [4] In der Endphase Weimars wurden die präsidialen Notstandsvollmachten der Republik dann tatsächlich zum Verhängnis.

Nach 1945: Lehren aus „Weimar“
Nach dem Ende der Hitlerdiktatur betrachtete Friedensburg es als unabdingbar, dass aus dem Weimarer Scheitern Lehren gezogen würden. „Wenn jetzt der Versuch zur Schaffung einer deutschen Demokratie wiederholt werde, so müsse man sich von vorn herein die damaligen Erfahrungen und Lehren vor Augen halten und die damals begangenen Fehler unter allen Umständen vermeiden“, legte er auf einer Massenkundgebung in Weimar am 28. November 1945 dar. [5]

Mit dieser Forderung sprach er einen Grundkonsens der unmittelbaren Nachkriegszeit aus. Dass es beim demokratischen Neubeginn aus Weimar zu lernen gelte, darin waren sich die Vertreter aller politischen Richtungen einig. Umstritten war nur, worin diese Lehren zu bestehen hätten. [6] Der ehemalige Regierungspräsident legte seinem Publikum vor allem drei Punkte ans Herz: Das wichtigste sei der Kampf gegen die Weimarer „Parteienzersplitterung“, die die politische Arbeit nach 1918 stark behindert habe. Zweitens gelte es aber auch, die deutsche Zentralgewalt zu stärken. Denn in Weimar habe sich die NSDAP in der „Ordnungszelle Bayern“ vor dem Zugriff der Reichsregierung verschanzen können. Drittens schließlich plädierte er für eine entschiedene Demokratisierung der Wirtschaft, die vor 1933 versäumt worden sei.

Die Weimarer „Parteienzersplitterung“ galt im bürgerlichen Lager generell als eine der Hauptursachen für das Scheitern der Republik. In dieser Haltung setzten sich zum Teil antipluralistische Vorurteile aus der Weimarer Zeit fort. Gelegentlich mag auch das nationalsozialistische Schlagwort von den „34 Parteien“, die Deutschland in den Ruin geführt hätten, mitgeschwungen haben. Überdies bestand unter bürgerlichen Politikern und Publizisten die Tendenz, den Untergang auf das politische System der Republik zurückzuführen, um so von der antidemokratischen Einstellung weiter Teile des Bürgertums abzulenken. Bei Friedensburg waren solche exkulpatorischen Motive jedoch nicht vorhanden. Er gehörte zu den Kreisen, die schon in der Endphase Weimars für einen Zusammenschluss der „bürgerlichen Mitte“ eingetreten waren. [7] Dass er sich dem Berliner Gründerkreis der CDU um den ehemaligen Reichsernährungsminister Andreas Hermes und den christlichen Gewerkschafter und Reichstagsabgeordneten Jakob Kaiser anschloss, war daher nur konsequent. Der in der Union ausgedrückte Wille zur Einheit, so führte Jakob Kaiser auf der Gründungsversammlung der Berliner CDU am 22. Juli 1945 aus, sei aus der Erkenntnis erwachsen, „dass die überspitzte und missbrauchte Freiheit der Weimarer Epoche die Zersplitterung des Volkes und damit den Fluch des Hitlersystems mit heraufbeschwor“ und „dass eines der deutschen Übel die Vielzahl seiner Parteien war“. [8] Tatsächlich war die Entstehung der CDU als einer überkonfessionellen, demokratischen Sammlungspartei der bürgerlichen Mitte ein wichtiger Faktor für die Stabilität der zweiten deutschen Demokratie. Dass Friedensburg auch die linke Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft aufgriff, lag letztlich in seiner dezidiert nationalen Haltung begründet. Ebenso wie Jakob Kaiser vertrat er die These, dass Deutschland eine „Brückenfunktion“ zwischen Ost und West spielen müsse, wenn es nicht zwischen den rivalisierenden Siegermächten zerrissen werden wolle. Um die Einheit des Deutschen Reiches zu erhalten, war er daher, anders als etwa Schumacher oder Adenauer, zu einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion bereit.

Im Vorwort seiner Studie über die Weimarer Zeit machte er deutlich, dass er bisher für eine bürgerlich-demokratische Republik gearbeitet habe. Heute aber müssten „neue Grundsätze und Formen für die Regelung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Deutschland“ gefunden werden. Dies sei eine „lebenswichtige Aufgabe“, und zwar aus innen- ebenso wie aus außenpolitischen Gründen. [9] Angesichts des beginnenden Kalten Krieges geriet er mit dieser Position jedoch nicht nur in seiner eigenen Partei bald in die Minderheit. Auch nach dem Vollzug der deutschen Teilung blieb er ein „nationaler“ Kritiker der von Adenauer verfolgten Deutschlandpolitik und forderte einen größeren Verständigungswillen des Bundeskanzlers im Umgang mit der Sowjetunion. [10]

Gegen das NS-Zerrbild von Demokratie und Nation
Schon in der Weimarer Zeit hatte Friedensburg eine betont nationale Haltung vertreten. Er gehörte zu denen, die vehement für eine Verbindung der demokratischen Idee mit dem nationalen Gedanken eintraten. Diese Haltung spiegelte sich auch in seinem Buch über die Weimarer Republik. Geschrieben hatte er es in fieberhafter Eile zwischen März und September 1933, also unmittelbar nach der Machtübertragung an Hitler. [11] Zu diesem Zeitpunkt überzogen die Nationalsozialisten das Reich mit einer infamen Diffamierungskampagne gegen die Republik und ihre Repräsentanten, um ihrer „Machtergreifung“ eine größere Legitimität zu verleihen. Je schwärzer sie das Bild der „Systemzeit“ zeichneten, desto größer musste die Rettungsleistung der Regierung Hitler erscheinen. Neben der Unterstellung von
Korruption und Unfähigkeit wurde der „Novemberrepublik“ von der NS-Propaganda vor allem vorgeworfen, dass sie den Zustand nationaler Schwäche zu verantworten habe, aus
dem Hitler Deutschland zu neuer Größe emporführen würde. Schon im Wahlkampf für die letzten halbwegs freien Wahlen vom 5. März 1933 hatte Friedensburg sich gegen die Unterstellung gewehrt, die Weimarer Politiker hätten Deutschland zugrunde gerichtet. [12] Auch mit seinem Buch wollte er die nationalen Leistungen der Republik herausstellen und den Versuchen entgegenwirken, das NS-Zerrbild des Weimarer Staates im öffentlichen Geschichtsbild zu verankern. Es begann daher mit einer ausführlichen Schilderung der Weimarer Außenpolitik. Friedensburgs Text atmet noch die damals herrschende nationale Empörung über den Versailler Vertrag und die fehlende Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker durch die Sieger von 1918. Hier sei die entscheidende Gelegenheit versäumt worden, „in Deutschland eine wahrhafte Sinneswandlung zur friedlichen und demokratischen Politik zu sichern“, lautete sein Urteil. [13] Gleichzeitig betonte er jedoch, dass es der Republik durch ihre friedliche Verständigungspolitik bereits vor der Machtübertragung an Hitler gelungen sei, den Vertrag entscheidend aufzuweichen.

Auch die nationalsozialistische Kritik an der SPD, deren Repräsentanten als „Novemberverbrecher“ verunglimpft wurden, wies er zurück. Vielmehr behauptete er in deutlicher Verkennung der USPD-Politik, die SPD habe Deutschland 1918/19 vor dem Bolschewismus gerettet und wies darauf hin, unter welch schwierigen Bedingungen die Sozialdemokraten um Friedrich Ebert ihre „staatserhaltende Aufgabe“ erfüllt hätten. Angesichts der vielfältigen Herausforderungen in der Stabilisierungsphase der Republik bis 1923 stellte er allgemein die „nationale Leidenschaft“ heraus, „mit der das Schicksal des Reiches noch einmal gemeistert wurde“. [14]Seine systematisch aufgebaute Studie enthielt außerdem detaillierte Würdigungen der republikanischen Leistungen in den Bereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik. Hitlers Diffamierungen der Republik, so erinnerte sich Friedensburg in seiner Autobiographie, „erregten mich so tief, dass ich unter Zurückstellung anderer Aufgaben den Versuch unternahm, die tatsächliche Entwicklung zwischen 1918 und 1933 mit wissenschaftlicher Sorgfalt zu untersuchen und die Ergebnisse unter dem Titel ‚Deutschlands Leistung nach dem Kriege’ in Buchform zu veröffentlichen.“ [15]

Die anfänglich noch gehegte Hoffnung auf Veröffentlichung des Manuskripts erwies sich jedoch bald als Illusion. Trotz der Vermittlung von Theodor Heuss traute sich kein Verlag, seine Verteidigungsschrift des Weimarer Staates zu drucken. [16] Erscheinen konnte sie daher erst nach dem Untergang des „Dritten Reiches“. In der unmittelbaren Nachkriegszeit herrschte in der deutschen Öffentlichkeit ein ausgesprochen negatives Bild der ersten deutschen Demokratie. „Wenn man manche Auslassungen liest, bekommt man den Eindruck, dass die Weimarer Republik eine schlimmere politische Sünde gewesen sein soll als das Dritte Reich“, beklagte sich Kurt Schumacher 1948. [17] „Alles was mit Weimar zusammenhängt, ist dem deutschen Volk widerwärtig“, lautete 1947 das wohl zutreffende Urteil des stellvertretenden Vorsitzenden der FDP Nordrhein-Westfalens, Freiherr von Rechenberg. [1]8 Wie Friedensburg in seinem Vorwort von 1945 feststellte, war dies nicht zuletzt eine Folge der NS-Propaganda. „Das Bild der Weimarer Republik ist der jüngeren Generation fast unbekannt und auch der älteren verzerrt durch die unablässige Propaganda der Hitlerzeit, die für die verlogene Darstellung der eigenen Leistung den Hintergrund ständiger Fehler und Verbrechen bei den Vorgängern benötigte“, hieß es dort. [19]

Friedensburgs Pionierstudie und die Wiederbegründung der Demokratie
Seine gegen die NS-Propaganda gerichtete Aufklärungsschrift besaß daher auch nach 1945 noch große Bedeutung. Denn das negative Weimarbild der unmittelbaren Nachkriegs- (Buchtitel der Erstausgabe von Friedensburgs Weimar-Studie nach dem Krieg: Carl Habel Verlagsbuchhandlung, Berlin 1946) zeit wirkte beim demokratischen Neubeginn tendenziell delegitimierend. Es schürte Skepsis und Ablehnung gegenüber dem Wiederaufbau eines parlamentarischen Parteienstaates. „Wenn wir jetzt von neuem an die Aufgabe herantreten, das deutsche Volk demokratisch zu organisieren, so ist es von entscheidendem Wert, den früheren Versuch richtig zu beurteilen, ja überhaupt erst zutreffend über ihn unterrichtet zu werden“, folgerte Friedensburg. [20] Gegenüber dem Historiker Friedrich Meinecke beklagte er sich, dass die Weimarer Republik
nach dem Prinzip des „post hoc ergo propter hoc“ nur als Ursache Hitlers betrachtet und daher verworfen werde. [21] In seinem Buch wollte er sie als „geschichtliche Schöpfung für sich“ würdigen. „Nicht das Heraufkommen des ‚Dritten Reiches’, sondern die Gestalt und das Schicksal der ersten deutschen Demokratie sollen dargestellt werden.“ [22] Ebenso wie er versuchten auch andere, das Bild der ersten deutschen Demokratie aufzuhellen, so etwa die spätere Vorsitzende der wieder gegründeten Zentrumspartei, Helene Wessel. [23] Erfolg hatten diese Versuche, der entstehenden Bonner Republik eine demokratische Traditionsressource zugänglich zu machen, jedoch nicht. Weimar blieb auch in der frühen Bundesrepublik die negative Kontrastfolie, an der die zweite deutsche Demokratie immer wieder ängstlich gemessen wurde.

Friedensburgs Manuskript von 1933 wurde nach dem Krieg nahezu unverändert publiziert. In einem 1945 verfassten Schlusskapitel ging er etwas deutlicher auf das Versagen Hindenburgs und die Nachgiebigkeit der Republik gegenüber ihren Feinden von Rechts ein, als das unter den Entstehungsbedingungen des Haupttextes möglich war. [24] Insbesondere seine Vorwürfe gegenüber den Siegern von 1918 blieben jedoch unverändert. Friedensburg selbst war sich schon 1947 nicht mehr sicher, ob er damit die richtige Entscheidung getroffen hatte. An seinen Freund, den ehemaligen preußischen Ministerialbeamten Arnold Brecht, schrieb er, der Verzicht auf Umarbeitung beruhte „auf der Abneigung gegen eine opportunistische Konjunkturrücksicht“, wie er sie gegenwärtig bei zahlreichen Deutschen im Umgang mit den Besatzungsmächten erlebe. [25]Da er bereits in Weimar einen nationalen Standpunkt vertreten und trotzdem gegen den grassierenden Militarismus opponiert habe, werfe er „die vaterländischen Zielsetzungen nicht über Bord, wenn unser Volk unter der Wucht der Niederlage einmal wieder einen allzu schroffen Stimmungsumschwung erleidet“, ließ er seine Leser wissen. [26]

Auch wenn die Nation nach 1945 der zentrale Bezugspunkt in Friedensburgs politischem Denken blieb, so war er doch weit davon entfernt, die deutsche Vergangenheit zu beschönigen oder mit dem Verweis auf den Versailler Vertrag die Deutschen von jeder Schuld an Hitler freizusprechen. Vielmehr trat er den Exkulpierungs- und Verharmlosungsversuchen seiner Landsleute deutlich entgegen. In den „Akademischen Blättern“, der Zeitschrift der Vereine Deutscher Studenten, übte er 1960 unter dem Titel „Wie bewältigt man die Vergangenheit?“ scharfe Kritik am moralischen Versagen des deutschen Bürgertums:
„Gerade die Schichten, die nach Bildung, Tradition und wirtschaftlicher Leistung eine besondere Verantwortung für die Allgemeinheit trugen, haben durch ihr Verhalten nach 1918 den Eroberungszug des Nationalsozialismus überhaupt erst ermöglicht. Auch wer sich mit ehrlichem Abscheu von den Gräueln der Hitlerzeit abwendet, muss sich prüfen, wieweit er durch sein Verhalten in der Weimarer Zeit diesen Gräueln den Weg bereitet hat […]. Um diese Vergangenheit handelt es sich nun einmal, die wir zu bewältigen haben, und unsere Aufgabe machen wir uns nicht leichter, wenn wir uns mit Einzelheiten und Äußerlichkeiten über den schicksalhaften Ernst des moralischen Versagens hinwegtäuschen wollen. […] Sehen wir das ein, so bleiben uns in Gottes Namen eben nur Scham und Reue übrig und das Bemühen um eine bessere Bewährung in der Zukunft!“ [27]
Seine Darstellung der Weimarer Republik war Friedensburgs erfolgreichstes Buch. Noch 1957 erlebte es eine überarbeitete Neuauflage. Als Pionierstudie hat es der beginnenden historischen Erforschung der ersten deutschen Republik wertvolle Dienste geleistet. Um als wissenschaftliches Werk dauerhaft Bestand zu haben, war es jedoch zu sehr seinem Entstehungskontext verbunden. Gerade die Frontstellung zur nationalsozialistischen Diffamierungskampagne macht das Buch jedoch auch heute noch interessant. „Weimar hat vielleicht eine schlechtere Presse als es verdient hätte“, stellte der amerikanische Historiker Fritz Stern kürzlich in der „ZEIT“ fest. [28] Eine Verteidigungsschrift des Weimarer Staates aus der Feder des Berliner Bürgermeisters und beherzten Republikaners besitzt also auch 60 Jahre nach ihrem Erscheinen noch Aktualität.

Anmerkungen
1 Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des
Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955.
2 Vgl. etwa Friedrich Stampfer, Die 14 Jahre der ersten deutschen Republik, Karlsbad 1936, Arthur
Rosenberg, Die Geschichte der deutschen Republik, Karlsbad 1935, oder Arnold Brecht, Prelude to
Silence
– The End of the German Republic, New York 1944. Zur Entwicklung der Benennung Weimars vgl.
Sebastian Ullrich, Mehr als Schall und Rauch. Der Streit um den Namen der ersten deutschen
Demokratie 1918-1949, in: Moritz Föllmer, Rüdiger Graf (Hg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur
Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/Mgeschichteberlins/persoenlichkeiten/persoenlichkeiteag/New York, 2005, S. 187-207.
3 Zu Friedensburgs Lebenslauf und seiner Rolle als amtierender Berliner Oberbürgermeister vgl.
Andreas Baldauf, Ferdinand Friedensburg, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Stadtoberhäupter. Biographien
Berliner Bürgermeister im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1992 (Berlinische Lebensbilder, Bd. 7), S.
391-415.
4 Vgl. Ferdinand Friedensburg, Meine Kasseler Jahre 1927-1933, in: Ders., Politik und Wirtschaft.
Aufsätze und Vorträge, Berlin 1961, S. 431-461, bes. S. 432-434.
5 Keine Wiederholung der Fehler der Weimarer Zeit (Bericht über eine Rede Friedensburgs in Weimar
am 28.11.45), in: Bundesarchiv Koblenz, BArch, Nachlass Ferdinand Friedensburg (N 1114), Bd. 27,
Bl. 309.
6 Zur Bedeutung Weimars für die unmittelbare Nachkriegszeit vgl. Sebastian Ullrich, Im Schatten einer
gescheiterten Demokratie. Die Weimarer Republik und der demokratische Neubeginn in den
Westzonen 1945-1949, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Griff nach der Deutungsmacht. Zur
Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 185-208.
7 Vgl. etwa das Protokoll einer Besprechung verschiedener Parteivertreter bei Friedensburg am
15.1.31, in: Geheimes Preußisches Staatsarchiv, Berlin, GStA, VI. HA, Nl Ferdinand Friedensburg,
Bd. 72. Friedensburg dachte allerdings offenbar im Gegensatz zum späteren Unionskonzept an einen
Zusammenschluss unter Ausschluss der Zentrumspartei. Vgl. auch Ferdinand Friedensburg,
Lebenserinnerungen, Frankfurt/Mgeschichteberlins/persoenlichkeiten/persoenlichkeiteag/Bonn 1969, S. 199-208.
8 Jakob Kaiser, Wir haben Brücke zu sein. Reden, Äußerungen und Aufsätze zur Deutschlandpolitik,
hg. von Christian Hacke, Köln 1988, S. 72.
9 Ferdinand Friedensburg, Die Weimarer Republik, Berlin 1946, S. 9.
10 Vgl. ders., Es ging um Deutschlands Einheit. Rückschau eines Berliners auf die Jahre nach 1945,
Berlin 1971.
11 Diese Angaben nach ders., Lebenserinnerungen (wie Anm. 7), S. 221, 238.
12 Ebd., S. 226-229.
13 Friedensburg, Weimarer Republik (wie Anm. 9), S. 23.
14 Ebd., S. 193.
15 Friedensburg, Lebenserinnerungen (wie Anm. 7), S. 229.
16 Theodor Heuss an Ferdinand Friedensburg, 29.11.1933, GStA, Nl Friedensburg, Bd. 72.
17 Kurt Schumacher, Die Sozialdemokratie im Kampf für Freiheit und Sozialismus, in: Kurt
Schumacher, Reden, Schriften, Korrespondenzen 1945-1952, hg von Willy Albrecht, Berlin/Bonn
1985, S. 588-619, Zitat auf S. 595.
18 In einem Brief an den Vorsitzenden des FDP-Zonenverbands der britischen Zone, Franz Blücher
vom 23.10.47, in: Politischer Liberalismus in der britischen Besatzungszone 1946-1948.
Führungsorgane und Politik, eingel. von Lothar Albertin, bearb. von Hans F. W. Gringmuth in
Verbindung mit Lothar Albertin, Düsseldorf 1995, S. 240.
19 Friedensburg, Weimarer Republik (wie Anm. 9), S. 7.
20 Ebd.
21 Ferdinand Friedensburg an Friedrich Meinecke, 16.1.1947, BArch, N 1114, Bd. 27, Bl. 166f.
22 Friedensburg, Weimarer Republik (wie Anm. 9), S. 8.
23 Vgl. Helene Wessel, Von der Weimarer Republik zum demokratischen Volksstaat, Essen 1946.
24 Friedensburg, Weimarer Republik (wie Anm. 9), S. 363-370. Gleichzeitig veröffentlichte
Friedensburg 1945 im „Aufbau“ einen Aufsatz zur „Hindenburglegende“, in dem er mit
Reichspräsident von Hindenburg abrechnete. Dieser ist abgedruckt in: ders., Politik und Wirtschaft
(wie Anm. 4), S. 308-312.
25 Ferdinand Friedensburg an Arnold Brecht, 7.7.1947, BArch, N 1114, Bd. 27, Bl. 352.
26 Friedensburg, Weimarer Republik (wie Anm. 9), S. 8.
27 Zit. nach Friedensburg, Lebenserinnerungen (wie Anm. 7), S. 231.
28 „Freiheit ist meine Leidenschaft“. Fritz Stern wird am 2. Februar 80 Jahre alt. Helmut Schmidt und
Theo Sommer sprechen mit dem 1938 nach Amerika emigrierten Historiker über sein Lebensthema:
Das Drama der deutschen Geschichte, in: DIE ZEIT vom 2.2.2006, S. 8-9.

Von Sebastian Ullrich
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