Günter Grass war Berlin verbunden

Günter Grass (am 16.Oktober 1927 in Danzig-Langenfurt geboren, am 13. April 2015 in Lübeck verstorben) hat viele Jahre in Berlin gelebt.

In der Festschrift zum 75. Jahrestag der Meierei C. Bolle (1956) schrieb er als Autor. Von 1963 bis 1996 wohnte Grass in der Niedstraße 13 in Friedenau. Der Nobelpreisträger war ein erfolgreicher Schriftsteller und Grafiker. Günter Grass war auch ein engagierter Bürger, der nicht immer Anerkennung in der Öffentlichkeit fand.

„Ich bin ein lebenslustiger Pessimist geblieben“, hat er im vergangenen Jahr gesagt. Langweilig war's mit ihm nie.
Die Rezension von Christine Knop zum Roman „Weites Land“ aus dem Jahr 1995 (erschienen in den Mitteilungen Heft 2, April 1998) kann hier noch einmal nachgelesen werden.

 

Rezension: Günter Grass, Ein weites Feld.
Roman, Göttingen: Steidl 1995, 783 S.

Das Buch gehört zu den letzten, die Dr. Hans Günter Schultze-Bemdt vor seiner schweren Erkrankung zur Besprechung im Verein für die Geschichte Berlins erbeten hatte und das er noch mit einer Anmerkung aus der Wirtschaftswochevom September 1995 versah. So erfolgt die Besprechung erst jetzt. -Wert und Bedeutung des Buches erschließen sich erst bei gründlichem Lesen, v. a. nachdem der anfängliche Medienlärm verrauscht ist, der sich bei seinem Erscheinen eingestellt hatte.

Die erste, oberflächliche Leserinformation auf dem Klappentext führt nicht ins dichterische Problem des Romans, sie skizziert nur das Aktuelle und Historische; er spricht von" verpaßten Gelegenheiten" der Wiedervereinigung. Aber die Grass eigene Romankonstruktion wird nicht aufgedeckt, und es wird nichts gesagt über das seltsame Hin-und Herspringen der Handlung zwischen den Zeiten des 19. und 20. Jahrhunderts, die einander in der Person Fontys entsprechen, der um hundert Jahre versetzt, parallel zu Fontane lebt. Im Kern steht das Personengeflecht der Ehepaare Theo Wuttke, alias Fonty, und seiner Frau Emmi und Fontane und seine Emilie, die jeweiligen Töchter Martha/Mete, ferner Fontys "Tagundnachtschatten" Hoftaller, ein Stasi-Agent, und der Erzähler, der sich" Wir vom Archiv"nennt.-Theo Wuttke,dessen Lebenslaufspiegel bildlich ins 20.Jahrhundert projiziert wird,bekam seinen Namen von seiner Funktion als" Kulturschaffender" in der alten DDR, wo ihn seine Fontane-Vorträge und -Lesungen zur Fontane-Imitatio oder -Konsekutio bringen. Am Ende vollendet er leidend,was der" Unsterbliche"nicht geleistet hat,weil er ins"weite Feld"ausgewichen ist, in die Welt der Halbheiten. Dies kann so gedeutet werden als ein Paradigma für die deutsche Befindlichkeit von 1990.-Fontanes Roman gestalten und die Peronens einer persönlichen Biographie werden in einem Vexierspiel hin-und herübergespielt und bedeuten sich gegenseitig, und aus ihrer Konfrontation von einst und jetzt soll sich die Aussage über die geistesgeschichtliche Situation unserer 90erJahre herausschälen;sie erfolgt eigenwillig-subjektiv aus der dichterischen wie politischen Sicht des Schriftstellers Grass. Das ist kompliziert;der Leser hat für sich selbst das Beziehungsgeflecht ständig neu herzustellen und dabei die vielen, vielleicht zu vielen Sinn-Bilder zu deuten. Das ist schwere Kost, die sich aber lohnt.

Um es vorwegzunehmen: die künstlich hergestellte Parallelität hat ihre Bedenklichkeiten, da der Dichter Fontane und sein erdachtes Ebenbild unserer Tage sich nicht immer decken; die Unschärfe strapaziert unsere inneren Augen. Aber Grass' sonst zugespitztes Entlarven ist hier maßvoller als in seinen Frühschriften. Fontane als Schutzgeist auf der Sinnsuche in der Einswerdung der Deutschen nach dem 3. Oktober -das könnte passen; die erdachte Wanderung gewinnt vom Standort Berlin aus tiefere Wahrheit als anderorts.-Danach wird deutlich,warum eine literarische Buchbesprechung imBerliner Geschichtsverein ihren Ort haben muß.

AlsHandlungsraum, die Ereignisse wechselseitig aufzuhellen, bieten sich Berliner Schauplätze wie der Tiergarten und das Alsenviertel, der Gendarmenmarkt, die Stadtmitte um die Jäger-und Französische Straße, Hankels Ablage. Dazu gehört ferner das Potsdamer Fontane-Archiv als eine wertende und deutende Instanz, die zuweilen ins Verborgene und Unerhellte weist, wo es Fonty auch nicht erschließen kann; es bleibt aber ein unerklärter Rest bestehen. -Das Vehikel, in dem die Klärungsprozesse stattfinden, ist der Paternoster im Hause der Ministerien, später von Fonty als Haus der Treuhand erlebt, in dem sich"über dieWendepunkte hinaus"dieGespräche begebenundindem sich auch Zeiten und Personen als vertauschbar erweisen.

Schon dereingangs gegebene Blickwinkel ist ein Sinn-Bild:der Erzähler ("Wir vomArchiv") und dasPaar Fonty und sein Tagundnachtschatten Hoftaller suchen den Durchblick, den die Mauerspechte im gewendeten Berlin freilegen. Sie gewinnen ihn nach einer Handlung von fast 800 Seiten, die das Leben Fontanes und seines Ebenbildes durchmißt, umspielt von seinen Romangestalten, Briefpartnern und Dichterfreunden; er schließt seine Revolutionsbegeisterung von 1848 ein, ihr Umschlagen in den Preußen-Patriotismus und das Staatsbejahende,das Sich-Bewegen im Kreise der Tunnel-Freunde und Dichterkollegen, seine Kriegserlebnisse im 70er-Krieg, seine schwierige Ehe, seine Krankheitskrisen, seine England-und Schottland-Reisen, seine märkischen Wanderungen.

Dementspricht in FontysZeit dessen Vergangenheit als" Luftwaffengefreiter", seine Zeit als"weggelaufener Lehrer" aus dem Staatsdienst der DDR, als Kulturbeauftragter in einer Nischengesellschaft, sein Abgewickeltsein in Nachwendezeiten. -Als seine persönliche Zutat zur Fontane-Biographie erfindet Grass das Erscheinen seiner unehelichen Enkeltochter aus den französischen Kriegstagen, die zur rettenden Kraft in der Lebenskrise wird.

Mit dem Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 hat Fonty seine Rolle ausgespielt; er taucht unter, er entschwindet dem Archiv-Erzähler aus seinem Blickfeld. Als besonders sinnerhellend mögen einige eindrucksvolle Geschehnisse und Personen hervorgehoben werden. Sie laufen nach einem Wiederholungsmuster ab, sie finden an geschichtsträchtigen Schauplätzen(bzw.an bedeutungsträchtigen Orten der Fontaneschen Romane) statt und treiben die Handlung weiter bis zu ihrer dramatischen Zuspitzung.

Da wäre die gleiche Labilität und gewisseFragwürdigkeit in der politischen Haltung, in welcher Bild Fontane und Abbild Fonty ihren Beruf ausüben, und deren Bodenlosigkeit die beiden Frauen am klarsten, weil leidend, durchschauen; ihnen ist zuerst die Inkonsequenz ihrer Männer deutlich geworden: Fontane hatte die" staatsbeamtete" Position als Sektretär der Preußischen Akademie der Künste nicht gewollt, da sie seiner frühen staats-und gesellschaftskritischen Einstellungnicht gemäß war,und erhatte es gerade zu darauf abgesehen,es niederlegen zu müssen. " Nichts als Ärger, Kränkungen".

So hat sich Fonty eine Nischenbeschäftigung als Redner in Sachen Fontane gesucht. Emmi warf ihm den" fortgelaufenen Lehrer"in nur halber Staatstreue vor;er habe dies getan," nur um an den langweiligen Kulturbundsitzungen und der bloßen Schreibtischhockerei vorbeizukommen".

(202) -Es ist Kritik am DDR-Kulturbetrieb, der bodenlos-seiltänzerisch ablief; wer den Mut zur Ironie aufbrachte, geriet ins Lächerliche; und dies erscheint besonders fragwürdig,weil er es tat, "als alles schon verschütt war", wie Emmi sagt.

Die Identifizierung geht bis in die Ähnlichkeit des Schriftbildes, in die Vertauschbarkeit der kleinbürgerlichen Wohnungen -hier die Potsdamer Straße 134 c, dort der "Poggenpuhlsche Salon" in der Kollwitzstraße-, bis in die Ähnlichkeiten des schönen" Greisengesichtes",wie es von Liebermann eingefangen war.

Vor allem befällt die gleiche krisenhafte Krankheit beide und offenbart ihre seelische Ausweglosigkeit.

Die Selbstheilungskräfte durch Schreiben müssen freigesetzt werden. Indem beide ihre eigene Entwicklung schreibend verarbeiten, wird ihr Mangel freigelegt, der zugleich eine deutsche Befindlichkeit freilegt:

Hier ist die Schwäche,das Ausmaß der existentiellen Krise in Staat und Gesellschaft ermessen zu wollen und ins"weite Feld"auszuweichen. Darin gewinnt der Romantitel seine eigentliche, seine gewollte tiefere Bedeutung.

"ImPrinzip lebt Vater alles noch mal durch, was längst verschütt ist!", läßt er Martha sagen.

"Als er noch fiebrig geredet hat, kamen bloß olle Kamellen hoch, na, seine Effi und ihre Briefe, und wie sich der olle Briest rausredet jedesmal, wenn'sknifflig wird!"

(217)-So wie Fontys Dichtergesellen vom Prenzlauer Berg bekennen:"Es ist schwer,was man tun und lassen soll! Das ist auch ein weites Feld!" (341) -Darüber wird Fonty analog dem"Unsterblichen" gesund, "im Glück der Rückschau, von der sich Pelle um Pelle häutenden Zeit, von lange verschütteten, plötzlich neu glänzenden Fundsachen."

(235)-In dieses Eintauchen in dieTiefe sind alle Gestalten verwickelt,die Fonty begleiten, seine Frau und Tochter, Hoftaller, das Archiv und seine "Freunde vom Prenzlauer Berg", die Bürgerrechtler. Es scheint, als sei die Hoftaller-Gestalt von Grass eingeführt worden,damit rationalisiert werde,was in der heutigen Fontane-Biographie in Ost und West" verschütt" ist: Die Nachwendezeit wird als ebenso unwahrhaftig-hohl zu erachten sein wie die wilhelminische.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Fonty eine innere Verwandtschaft herstellt zum verkannten und in der DDR fremdgebliebenen Uwe Johnson, der deren Gesellschaft und geistigeWirklichkeit am tiefschürfendsten erkannt hatte. In ihm sieht Grass wohl so etwas wie einen Fontane-Nachfolger.

Hier wird erst richtig Fontys Aufgabe sichtbar: Er spielt die Rolle dessen, der vollenden soll, was Fontane selbst ungeklärt zurückgelassen hat ,wo er selbst im"weiten Feld" verblieb; deshalb lebt er hundert Jahre später in einer gleichstrukturierten Zeit aus gleicher seelischer Veranlagung. Von hier aus werden auch die Fontaneschen Schauplätze Neuer See, Rousseauinsel, Hankels Ablage und der Platz mit dem Fontane-Denkmal in Neuruppin und der Französische Friedhof zu Schicksalsorten, wo sich dichterisches Leben in der Gegenwart zu real gelebtem vollenden soll und umgekehrt das unzulängliche wirkliche dichterisch gedeutet werden kann. Der in die ihm unverständlich und bedrohlich erscheinenden Ereignisse ausgesetzte Fonty-Fontane findet sich auf dem Neuen See "allein im Boot" und erkennt plötzlich: "Wüßte ich nicht, daß alles tatsächlich und am hellichten Tage geschieht, müßte ich glauben, mir träume etwas sehr Wunderbares." (422) -Gemeint ist die zauberhafte Gegenwart der Enkeltochter Madeleine, einer Nachformung der Lene Nimptsch.

Dies möge als eines der am meisten besinnenswerten Beispiele für das Ausdeuten fontanescher Sinn-Orte stehen; viele andere findet der Leser bei der Vergegenwärtigung der Altersromane "Effi Briest","Irrungen und Wirrungen","Vor dem Sturm"und" Stechlin",aber auch bei der Erörterung vonRecht und Unrecht in " Quitt" und" Unter dem Birnbaum" und" Unwiederbringlich".

Zu wahrhaft schauriger Nachdenklichkeit führt die Schilderung eines Besuches, zu dem Fonty vom Tagundnachtschatten Hoftaller, den Grass einen" Spezialisten für Systemwechsel"nennt, widerwillig geschleppt wird.

Es ist der Ort der" Schwarzen Pumpe".Sie ist ein Zustand, der in die heile Welt der märkischen Wanderungen nicht paßt.

Und hier wird ein Rollenwechsel vorgenommen! Hoftaller ist es, der Fonty an den Abgrund des Schrecklichen führt und das Grauen der Abraumgrube deutet. Beziehungsvoll erfährt Fonty dies Schreckliche im Vorfeld des Einigungstages vom 3.Oktober 1990. Er muß die Fördermaschinen wie" erbrochenes Drachengekröse"nennt er den Anblick-als Inbegriff des Schrecklichen ansehen. "Er führt ihn in das Geschlinge ausrangierter Förderbänder." Und es ist Hoftaller, der sagt: " Was haben sie aus uns machen lassen? Trauriger Überrest. Nur noch Rückstände sind wir, allenfalls Schrottwert. Altlasten nennt man das. Los,Fonty! Hinsehen! Sieht man nicht alleTage so deutlich!" (521) -Wird hier eine letzte, fast metaphysische Bösartigkeit des Menschen beschworen, die Fontane wie durch Risse und Sprünge hin durch zwar fühlte, aber im Schweigen beließ-ausletzter Ehrfurcht?

Ist dies die schreckliche Seite des" weiten Feldes?" "Wer sein Auge auf das Nichts richtet, versteinert!", sagt Fonty. -Grass nennt dies eine" Rede am Abgrund". Sie sei in ihrem tiefsinnigen Ernst den Pastoren Lorenzen und Seidentopf wesensgleich gewesen, reiche aber in ihrer Dämonie eher an Hoppenmarieken heran. Schaudernd erkennt der Archiv-Erzähler (und mit ihm der Leser) diese Absurdität.

Absurd ist ferner: Die Verschmelzung der Fonty-Fontane-Gestalt in ihrer geistigen Befindlichkeit im Gegenwärtigen ist untrennbar mit der Spitzel-und Mephisto-Gestalt Hoftallers verbunden, ja gewinnt in ihr erst die Tiefendimension. Fällt sie weg, bleibt nur der banale Theo Wuttke zurück,der Aktenbote im Gebäude der Treuhand, der "Abgewickelte".

Ein so in seinen Bedeutungsvarianten gleißendes Buch muß je nach persönlichem Standpunkt auch zu Fehldeutungen oder zu Ablehnung führen, die es zu respektieren gilt. Als ein Beispiel dafür stehe der Widerspruch der Birgit Breuel in der Wirtschaftswoche Nr. 37 vom 7. September 1995, S. 29. Sie fühlt darin alle verantwortungsvolle Arbeit an den neuen Ländern und mit ihr die Bürgerrechtler verraten, und das ist verständlich. Dagegen steht die Ausdeutung des Buches als einer Dichtung.

Von Christiane Knop

 

Weitere Informationen:

http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Grass

http://grass-haus.de/