Curt Bois (1901-1991): Der Komiker neuen Typs
(Friedhof Wilmersdorf, Berliner Straße 81-103, Abteilung A9-87. Das Grab ist aufgegeben worden und neu belegt.)

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Er war ein Wunderkind. Am 23. Oktober 1908 spielte und sang er im Theater des Westens das Heinerle in Leo Falls Operette Der fidele Bauer so souverän, dass sich die hauptstädtische Presse einig war: In dem Kleinen steckt ein großer Komiker.
Ein gewaltiger Zeitsprung: Am 26. November 1988, wiederum im Theater des Westens. Der neu geschaffene europäische Filmpreis Felix wird zum ersten Mal verliehen, in der Kategorie bester Nebendarsteller an Curt Bois für seine Rolle als Homer in Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin. Dabei kommt es zu einer denkwürdigen Szene: Curt Bois, animiert vom Applaus, geht vor dem Auditorium auf die Knie und demonstriert, wie er sich in Szene gesetzt hatte, am selben Ort vor achtzig Jahren. Und damit man ihn nicht verkenne, rief er wie damals ins Publikum: „Ich bin’s das Heinerle!“ Stehende Ovationen der versammelten europäischen Filmprominenz. 

Aus „Klein-Bois“, dem Kinderstar, wurde in den 1920er Jahren ein Berliner Charakterkomiker von allererster Güte, der in Inszenierungen von Max Reinhard, Erwin Piscator, Heinz Hilpert, Victor Barnowsky und anderen Publikum wie Kritiker begeisterte. „Was wäre die Komödie ohne Curt Bois?“, fragte Felix Salten. Seine Antwort: „Eine Uhr ohne Zeiger, eine Glühbirne ohne elektrischen Strom, ein Auto ohne Motor.“

Er konnte einfach alles, er war Tänzer und Sprecher, Akrobat und Sänger und meistens besser als die Stücke, in denen er spielte. Als „Komiker neuen Typs“ (Kurt Pinthus) amerikanisierte er die Berliner Posse und modernisierte (1928) auch Charleys Tante, das alte Erbstück aus der Kaiserzeit. Ganz anders als einst Guido Thielscher (1859-1941), der die Rolle für Deutschland kreiert hatte, betrat er die Szene: in einem Modellkleid aus dem Modesalon Grünberg, vorn und hinten dekolletiert, mit glitzerndem Kopfschmuck und behängt mit einem Juwelenladen. Erich Kästner war begeistert: „Es ist einfach frappant, was der junge Mann aus dem alten Stück gemacht hat! Das Publikum kommt aus dem Gelächter überhaupt nicht mehr heraus. Es sieht eine Figur auf den Brettern, die direkt von der Straße gekommen zu sein scheint, um das alte Stück und die neue Zeit gegeneinander zu hetzen.“ Doch dann brach die Politik über ihn herein und er musste Deutschland verlassen, weil er nur noch drei Möglichkeiten sah: entweder sich selbst umzubringen oder umgebracht zu werden oder in einem anderen Land tragikomisch sein Dasein zu fristen. Er wählte die dritte Möglichkeit und ging nach Hollywood, wo er als Kleindarsteller überlebte. Oft waren es nur wenige Minuten wie als Taschendieb in dem Kultfilm Casablanca. Mehr Zeit gab man ihm nicht, um sein Können in Erinnerung zu rufen. Ein großes Talent lag brach. Thomas Mann und andere Prominente des Exils unterstützen ihn bei seiner Rückkehr nach Deutschland. Als er 1950 wieder deutschen Boden betrat, war der Eiserne Vorhang schon gefallen und der Kalte Krieg in vollem Gange. Von Remigranten wie ihm wurde erwartet, dass sie sich auf die eine oder andere Seite schlugen. Wenn sie das nicht wollten oder konnten, galten sie als unzuverlässige Grenzgänger.

Curt Bois ließ sich zunächst in Berlin Ost nieder, spielte am Deutschen Theater bei Wolfgang Langhoff (1901-1966) Gogols Revisor und bei Bertolt Brecht (1898-1956)  den Puntila. Das Publikum war glücklich, ihn wiederzuhaben. Die stalinistischen Kulturfunktionäre waren es nicht: zu extravagant, zu amerikanisch. Vermutlich waren sie erleichtert, als er aus Mangel an Beschäftigung nach Berlin West umzog. Doch hier nahm man ihm übel, dass er zuerst auf die falsche Seite zurückgekehrt war und boykottierte ihn. Ein Glück, dass auch der große Schauspieler Fritz Kortner (1892-1970) aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt war und nun als Regisseur das „nachhitlerische Theater“ aus seiner Konvention und Konfektion aufrüttelte. In Curt Bois fand er einen Verbündeten für sein Theater der Genauigkeit und Wahrhaftigkeit, das Maßstäbe setzte im Nachkriegsdeutschland. Wie Brecht im Osten, so Kortner im Westen.

„Kortner verlangte das Äußerste von sich und den Schauspielern“, erinnerte sich Curt Bois, „Ein ‘schwieriger Mensch’, besonders für Schauspieler, die um zehn im Synchron-Studio, um zwölf beim Rundfunk und um vierzehn Uhr beim Fernsehen zu tun hatten. Sie fielen auf seinen langen und anstrengenden Proben schneller in Ohnmacht als gewöhnlich“
Mit Kortner erlebte Curt Bois noch einmal eine große Zeit am Theater. Wie zuvor Reinhardt und Brecht, wusste auch er sein Genie zu schätzen und gab ihm die großen Rollen des Charakterkomikers wie den Malvolio in Shakespeares Was ihr wollt oder Moliéres Eingebildeten Kranken. 1960 inszenierte Kortner am Schillertheater Moliéres Don Juan, die Titelrolle spielte Martin Held (1908-1992), sein Diener Sganarelle war Curt Bois, der für seine Rolle mit dem Berliner Kritikerpreis ausgezeichnet wurde. Begründung: „Er zeigte sich als ein Komiker auf der Linie Chaplins. Wie er diese Figur mit zarter Melancholie überstäubte, wird unvergesslich bleiben. In seiner graziösen Pantomime war etwas von der stillen Empörung der getretenen Kreatur. Er war Schwejk und Truffaldino zugleich. Diese Darstellung war die endgültige Wiederentdeckung eines Schauspielers, der bereits in den zwanziger Jahren zu Berlins Elite gehörte.“

Heute erinnert in Berlin nichts an Curt Bois. Keine Straße, keine Gedenktafel, kein Ehrengrab. Verschwunden ist auch sein Urnengrab auf dem Wilmersdorfer Friedhof. So vergesslich kann Berlin sein.

Text: Gerold Ducke; Fotos: Erika Babatz
Auszug aus ihrem Vortrag „Friedhof der Schauspieler, Zweiter Akt“, gehalten Im Rahmen der Vortragsreihe des Vereins für die Geschichte Berlins am 16. September 2015.