Lassalle in Berlin
Von Walther G. Oschilewski
Die faszinierende Persönlichkeit des 1825 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Breslau geborenen Ferdinand Lassalle gehört zu den großen Bewegern der deutschen Geschichte, deren geistiges Leuchten bis in unsere Zeit hineinreicht. Ausgestattet mit dem Wissen vieler Jahrhunderte, selbstbewußt und willensstark, so hat dieser einzigartige Volkstribun und Erwecker der modernen Arbeiterbewegung das politische Antlitz der Welt von Grund auf verändert.
Wohl gefiel man sich immer wieder darin, seinen subjektiven Ehrgeiz und seine Imperatormanieren zu tadeln, ohne dabei zu bedenken, daß erst aus der psychischen Kompliziertheit seines Wesens, das die Höhen und Tiefen der Lebensexistenz ausmaß, das schöpferische Gefalle seiner kontinentalen politischhistorischen Leistung zu verstehen ist.
Zweifellos ist Ferdinand Lassalle, der auf Alexander von Humboldt und den bedeutenden Philologen August Böckh einen ebenso starken Eindruck machte wie auf Heinrich Heine und Otto von Bismarck, der Prototyp eines selbstherrlichen Ich-Menschen gewesen - nur zum Unterschied zu anderen klassischen Individualisten der Weltgeschichte verband er seine intellektuellen Gaben mit den historischen und politischen Aufgaben einer von ihm entfachten Volksbewegung, durch die ein Fels der Zukunft gebaut wurde.
Werde- und Studienjahre in Berlin
Mit Berlin verbanden den genialen Feuerkopf in der Ära des mit parlamentarischen Feigenblättern schamvoll verdeckten Absolutismus weitreichende und nachdauernde Beziehungen.
Im Frühjahr 1844 kam Ferdinand Lassalle zum ersten Male in die preußische Hauptstadt, um hier „das größte, umfassendste Studium der Welt, das Studium der Geschichte", das er in seiner Vaterstadt Breslau begonnen hatte, fortzusetzen. Er ließ sich am 14. April immatrikulieren und nahm, lebens- und genußsüchtig wie er war, ein teures und nobles Zimmer Unter den Linden.
Schon damals war der junge Student mit der blassen Gesichtsfarbe, dem braunen krausen Haar und dem griechischen Profil, „das mit den physiognomischen Merkmalen seiner Herkunft eigentümlich verschmolzen war", wie Heimann Oncken schrieb, ein dandyhafter Kavalier mit großer Verschwendungssucht und keckem Selbstbewußtsein, der auf dem Parkett der reichen Leute und in den Boudoirs feiner Damen mehr zu finden war als auf den Buden seiner Kommilitonen.
Um so merkwürdiger nimmt sich jener Brief an den besorgten Vater vom 13. Mai 1844 aus, mit dem er seinen arbeitsamen und angeblich asketischen Lebenswandel zu veranschaulichen sucht: „Meine Zeiteinteilung und sonstige Lebensweise kurz zu schildern, verhält es sich so mit ihr: Ich stehe früh etwa vor 4 Uhr auf, arbeite bis 9 Uhr Hegel, um 9 Uhr gehe ich ins Kolleg, um 10 Uhr komme ich zurück, ziehe mich aus, Schlafrock, Pantoffeln und Nachthemd an und arbeite bis 10 Uhr ununterbrochen; um 10 Uhr lege ich mich schlafen. Ich ziehe mich immer, wenn ich um 10 Uhr früh aus dem Kolleg komme, aus, sagte ich, weil ich den Tag nie wieder ausgehe, ich esse nämlich gewöhnlich zu Hause Mittag; nur zweimal die Woche höchstens gehe ich zu Mitlag essen."
Lassalles erstes Berliner Semester fiel in das denkwürdige Jahr des Hungeraufstandes der schlesischen Weber. „Hört Ihr's gewittern am Horizont? Fürchtet Euch nicht, es wird diesmal vorübergehen und noch einmal vorübergehen - aber dann wird's einschlagen - gerissen ist die Zeit aus den Gelenken. Wohl mir, daß ich geboren bin, sie wieder einzurenken", schrieb er am 12. Juni 1844 im Hinblick auf jenes erste Aufflackern der sozialen Revolution an den Vater.
An der Berliner Universität, an der von 1836 bis 1841 auch der um sieben Jahre ältere Karl Marx studierte, hörte er bei Benary eine Einführung in das Alte Testament, bei dem Archäologen Panofka die „Erläuterung ausgewählter Kunstdenkmäler", bei Gabler „Logik und Metaphysik". Wie er selbst bekannte, haben ihm Schelling und der Antihegelianer Trendelenburg nichts bieten können, wie ihn überhaupt der amtliche Universitätsbetrieb „dank der Langweiligkeit der Professoren" wenig befriedigte.
„Trivialitäten in der höchsten Potenz, aber nirgends Philosophie, es ist zum Totschießen". Demgegenüber war ihm das Selbststudium während der Berliner Semester (1844-45 und Winter 1845-46) „das einzig Fruchtbare". Mit Leidenschaft widmete er sich den Schriften Hegels, dessen Lehre vom ewigen Fluß der Entwicklung und dem dauernden dialektischen Prozeß des Geschichtsverlaufs bei folgerichtigem Zuendedenken die bisherigen Formen des staatlichen Lebens verändern müßte.
Hier in Berlin versammelte der zwanzigjährige Philosoph einen Kreis gleichgesinnter Menschen, die zumeist älter waren als er selbst. Man las, von Lassalle herrschsüchlig kommandiert, die Neuerscheinungen der deutschen Sozialisten, Wilhelm Weitlings „Garantien der Harmonie und Freiheit", Karl Grüns „Soziale Bewegung in Frankreich und Belgien", Friedrich Engels' „Lage der arbeitenden Klassen in England", aber auch Stirners „Der Einzige und sein Eigentum".
Sein Freundeskreis, zu dem u. a. der um zehn Jahre ältere Arzt Dr. Arnold Mendelssohn, ein Enkel von Moses Mendelssohn, den er in Hegel einführte, und der junge Assessor Dr. Alexander Oppenheim gehörte, himmelte ihn an; sie nannten ihn „Kenner der Höhen und Tiefen", „Feldherr des Geistes", „Cortez der Neuzeit", „Meister über die Geister" und förderten damit die cäsarische Gestik seines maßlosen Herrscherwillens.
Später, nach seiner ersten Pariser Reise, fand er auch Zugang zu den ästhetisierenden und politisierenden Salons Varnhagens von Ense und anderer Glieder der Berliner Gesellschaft, die sich aus Vertretern des wohlhabenden und gebildeten Judentums, aus geistigen Elementen des Hofes und Universitätsprofessoren zusammensetzten. Im Hause des Bankiers Joseph Mendelssohn traf er auch mit Alexander von Humboldt zusammen, mit dem er stundenlang ebenso rechthaberisch wie selbstsicher über eine Meinung Hegels streiten konnte. Gütig und selbstlos, wie Humboldt war, hat er sich nicht an der jugendlichen Unerzogenheit des trotzigen Brausekopfes gestoßen, wenn es galt, ihm etwa durch Empfehlungsschreiben an französische Gelehrte wissenschaftlich den Weg zu ebnen.
In seiner intensiven Beschäftigung mit der Philosophie beschränkte sich Lassalle nicht auf Hegel; einerseits suchte er Fühlung mit den Junghegelianern, die aus der Lehre des Meisters ihre radikalen Konsequenzen für die Politik zogen und im Begriff waren, die geistigen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus zu erarbeiten, andererseits fand er, wahrscheinlich durch August Böckh angeregt, zu der Philosophie Heraklits des Dunklen, dem er sein wissenschaftliches Erstlingswerk widmete, mit dem er zu promovieren beabsichtigte, das aber erst 1858 in zwei Bänden bei Franz Duncker in Berlin erschien.
Aus jener Zeit der Frühreife stammt auch eine Reihe von aufschlußreichen Briefen, die dem Umfang nach wahren Abhandlungen gleichkommen, wie der etwa im September 1844 aus Anlaß der Berliner Gewerbeausstellung gerichtete Mammutbrief, an dem er drei Tage schrieb und der ihn, wie er selbst erklärte, sieben Stahlfedern und 39 Zigarren gekostet habe.
In Berlin liegen auch die Wurzeln eines dramatisch verlaufenen Ereignisses, das für Lassalles Lebensweg von schicksalhafter Bedeutung war. Von seiner ersten Reise aus der „Lichtstadt an der Seine" zurückgekehrt, lernte er hier durch Vermittlung des Obersten Kaiserling in Berlin im Januar 1846 die Gräfin Sophie Hatzfeldt kennen. Als 20jähriger „machtloser Jude" erhob er sich, wie er im Oktober 1860 an die junge Russin Sophie Sontzoff in einem fast 40 Großquartseiten eng in Französisch abgefaßten Manuskriptbrief schrieb, „gegen die Macht des Ranges und der ganzen Aristokratie, gegen die Macht eines unbegrenzten Reichtums, gegen die Regierung und gegen die Beamten aller Art, gegen alle nur möglichen Vorurteile".
Die Gräfin, durch Geburt eng an die Oberschicht des preußischen Staates gekettet, wurde von ihrem Gatten, einem der reichsten Magnaten am Niederrhein, der sein Millionen-Vermögen sinnlos verschwendete, aufs unwürdigste verfolgt, gequält, gefangengehalten, ihrer Kinder und aller Existenzmittel beraubt. Im Sinne von Robespierre, der in seiner Konstitution verkündete: „Soziale Unterdrückung ist es, wenn auch nur ein einziges Individuum unterdrückt wird", machte Lassalle den Kampf der Gräfin um ihre Recht und um ihre Ehre zu dem seinen. Er hat diesen Kampf gegen die Macht des allen Feudalstaates, seiner Bürokratie und Justiz, der ihn völlig aus den Absichten seines gelehrten Berufes riß, mit großen persönlichen Opfern ein ganzes Jahrzehnt durchgehalten und ihn schließlich siegreich gewonnen.
Es ist hier nicht der Raum, die näheren Umstände dieses ritterlichen Einsatzes Lassalles für eine hilflose Frau zu schildern - die Auswirkungen weisen aber immer wieder auf Berlin zurück. Im Verlauf der Recherchen, Hilfestellungen und des prozessualischen Feldzuges ging Lassalle im Sommer 1846 in die Rheinprovinz, wurde am 26. März 1847 wegen Vernichtung von Kriminalakten verhaftet, am 4. Mai freigesprochen.
Im Zusammenhang mit dem bekannten Kassetten-Diebstahl seiner Freunde Oppenheim und Mendelssohn, als dessen geistiger Urheber er galt, abermals verhaftet, unter Anklage gestellt und nach seinen genialen Verteidigungsreden vor dem Königlichen Assisenhofe zu Köln und vor den Geschworenen, die 1848 bzw. 1849 auch als Druckschriften erschienen, von der Anklage freigesprochen. Seine wegen eines anderen Vergehens (Aufforderung zum gewaltsamen Widerstand
gegen Staatsbeamte) vom Kölner Zuchtpolizeigericht verhängte sechsmonatige Gefängnisstrafe bewahrte ihn davor, nach den Revolutionswirren am Niederrhein ins Exil gehen zu müssen.
Nach Berlin konnte Ferdinand Lassalle erst nach Beendigung des Hatzfeldt-Prozesses im April 1857 zurückkehren. Schon im Mai und im Oktober des Jahres 1855 hatte er Gesuche um eine längere Aufenthaltsgenehmigung an den Berliner Polizeipräsidenten von Hinckeldey gerichtet, die abschlägig beschieden wurden.
Erst ein weiteres Gesuch vom April 1857 an den neuen Berliner Polizeipräsidenten Freiherrn von Zedlilz-Neukirch, in dem er die dringend notwendige Überwachung und Herausgabe des „Heraklit" bei Franz Duncker darlegte, halte den gewünschten Erfolg. Er wurde aber ständig bewacht und mußte seinen Aufenthalt von vier zu vier Wochen verlängern lassen. Erst nach dem Erscheinen des „Heraklit", der von Alexander von Humboldt, August Böckh, dem alten Varnhagen und vielen früheren Gönnern enthusiastisch begrüßt wurde, löste sich die zwangsvolle Kontrolle und Isoliertheit wieder zur größeren, wenn auch noch immer eingeschränkten Freiheit.
Lassalle war nunmehr der Favorit der Berliner literarischen und politischen Gesellschaft. Alexander von Humboldt bittet ihn um seinen häufigen Besuch. Wir sehen ihn auf den Montag-Abenden des literarisch-kritischen Ehepaares Adolf Stahr und Fanny Lewald, er geht in dem prächtigen Salon der Gattin seines Verlegers Franz Duncker, der zugleich Besitzer der kleinbürgerlich-demokratischen Volkszeitung war, ein und aus und findet in dem gastfreien Hause Varnhagens von Ense in der Mauerstraße 36, dem nach Rahels Tode im Jahre 1833 Varnhagens Nichte Ludmilla Assing vorstand, freundliche Aufnahme.
Aber auch in seinen eigenen Behausungen, in der Potsdamer Straße Ecke Eichhornstraße und von 1859 ab in der Bellevuestraße 13, „Haute parterre", einer feudalen Wohnung für fünfhundert Reichstaler, deren Salons und Arbeitszimmer mit orientalischen Waffen, französischen Kupferstichen, antiken Marmorfragmenten und reichen Bücherschätzen die Atmosphäre seines vielgestaltigen Geistes ausstrahlten, versammelte er viele Persönlichkeiten der verschiedensten Berufsstellungen und politischen Anschauungen, den philosophischen Musiker Hans von Bülow ebenso wie den allen General von Pfuel, Ernst Dohm, den „Kladderadatsch"-Redakteur, wie den Maler Ludwig Pietsch, den großen Philologen August Böckh und den „roten Becker", den Veteran der 1848er Revolution.
Berlin war für Ferdinand Lassalle zum Nabel der Welt geworden. Er kämpfte um diese Stadt mit der ganzen Besessenheit eines lokalpatriotischen Fanatikers. Nach dem Erscheinen des zweiten Bandes des „Heraklit" wollte er sich der monographischen Bearbeitung des Pythagoras widmen, die ihn 15 Jahre kosten würde, wie er an seine Eltern schrieb. Noch immer stand die Politik im Hintergrund seiner Bemühungen. Er mußte sich ihr versagen, wenn er die von den Polizeibehörden immer nur um vier Wochen verlängerte Aufenthaltsgenehmigung nicht gefährden wollte.
In diese Zeit der zwangsläufigen politischen Abstinenz fällt die Prügelei mit dem Intendanturrat Fabrice, der sich durch ein provozierendes Lächein Lassalles auf einer Gesellschaft beleidigt fühlte, Lassalle Ende Mai 1858 unter Mithilfe seines Sekundanten im Tiergarten mit einer Reitpeitsche angriff. Lassalle schlug mit seinem Stock zurück, und das Resultat dieses Skandals war seine Ausweisung.
In seinem Selbstgefühl verletzt, kämpfte er, unterstützt von Humboldt, Böckh und Varnhagen, um die Revision des Beschlusses. Die Minister Manteuffel und Westphalen wurden angesprochen und eine umfängliche Immediateingabe an den Prinzen von Preußen gerichtet, die auch die ganze Frage der bisherigen Aufenthaltsberechtigung aufrollte. Aber alles blieb vorerst ohne Erfolg. Der Ausweisungsbefehl der entscheidenden Instanzen wurde erneuert, und so mußte Lassalle am 25. Juli 1858 Berlin verlassen.
Erst nach dem Regentschaftsantritt des Prinzen und der Entlassung des reaktionären Ministeriums Manteuffel-Westphalen konnte er im Oktober auf Grund der Entscheidung des Prinzregenten, „daß die von dem Literaten Ferdinand Lassalle beantragte Niederlassung in Berlin polizeilich nicht mehr weiter gehindert werde", nach einer mit den beiden Dunckers unternommenen Erholungsreise durch die Schweiz in die preußische Hauptstadt zurückkehren.
Auf dem Berliner Kampfboden der Politik
Seit seiner ersten politischen Manifestation: „Der italienische Krieg und die Aufgaben Preußens" (1859 bei Franz Duncker erschienen) trat Ferdinand Lassalle endgültig auf den Berliner Kampfboden der Politik. Im gleichen Jahre erschien, ebenfalls bei Franz Duncker, angeregt durch die großartige Huttenbiographie von David Friedrich Strauß, die während seines Düsseldorfer Aufenthalts begonnene und im Winter 1857/58 in Berlin vollendete historische Tragödie „Franz von Sickingen" - Lassalles Antwort auf die zehn Jahre zuvor fehlgeschlagene deutsche Revolution.
Diese in klassischen Jamben geschriebene Tragödie war kein reines Kunstwerk (Lassalle hat selbst rückhaltlos bekannt, daß ihm die Kraft zum Dichter fehle), aber sie war ein politischer Kampfruf im Gewände des Dramas für allgemeine Geistesfreiheit und die Einheit Deutschlands, deren wortreiche Rhetorik den Glauben an die Macht der politischen Notwendigkeilen versinnbildlichte. Schon vor der Drucklegung hatte Ernst Dohm das für die Bühne umgearbeitete anonyme Manuskript zum Generalintendanten Botho von Hülsen ins Königliche Schauspielhaus getragen, um eine Aufführung anzuregen, die sich dann aber trotz des ersten Beifalls Hülsens nicht realisieren ließ.
Bevor sich Ferdinand Lassalle endgültig den entscheidenden Aufgaben der politischen Aktion zuwandte, schrieb er 1859/60 in zwanzig Monaten das rechtsphilosophische Werk „Das System der erworbenen Rechte", das diesmal nicht bei Duncker, mit dem er sich überwerfen hatte, sondern Ende März 1861 in zwei Bänden bei Brockhaus in Leipzig herauskam.
Wenige Tage nach dem Erscheinen des Werkes, das fast völlig totgeschwiegen wurde, kam Karl Marx nach Berlin, der vom 1. bis 12. April bei Lassalle wohnte. Der Gastgeber schlug Marx die Mitredaktion einer von ihm in Verbindung mit Brockhaus zu gründenden großen Berliner Zeitung vor und bemühte sich im Zuge dieses Vorhabens um die Naturalisierung des Freundes, die aber am 25. April 1861 mit der Begründung, daß Marx eine „republikanische und mindestens keine royalistische Gesinnung habe", abgelehnt wurde.
Nachdem der Zeitungsplan wie auch die Naturalisierung von Marx gescheitert war, reiste Lassalle im Juli 1861 mit der Gräfin Hatzfeldt in die Schweiz und nach Italien und kam erst im Januar 1862, von dem Revolutionsspiel des demokratisch-republikanischen Volkshelden Garibaldi mächtig angerührt, nach Berlin zurück. Das Jahr 1862 war sowohl für Preußen wie für Lassalle das Jahr der großen Entscheidungen.
Lassalles revolutionäre Gesinnungen fußen auf zwei Elementen: auf dem Gedanken des Staates und auf der politischen, sittlichen und Ökonomischen Konzeption des Sozialismus. Schon vor seiner ersten Begegnung mit Karl Marx in den Jahren 1848 und 1849 war er Sozialist von wissenschaftlicher Grundhaltung, aber mit starkem idealistischem Einschlag gewesen. Während Karl Marx, der ebenfalls von Hegel herkam, sich immer mehr der Ökonomie zuwandte, wurde der Philosoph der politische Wegbereiter und Instrukteur der deutschen Arbeiterbewegung, die vornehmlich in Auswirkung zweier von ihm in Berlin gehaltener Reden sich bald über ganz Deutschland ausbreitete.
Die preußische Hauptstadt war im Zuge der fortschreitenden Entwicklung in den Jahren 1845 bis 1860 von 380 000 auf über eine halbe Million Einwohner gewachsen. Der damit zusammenhängende soziologische Strukturwandel und vor allem der preußische Verfassungskonflikt zwischen dem König und der Kammer über die Heeresorganisation im Winter 1861/62 war der Anlaß für die immer stärker aufflackernde demokratische Stimmung des Berliner Volkes.
Im Januar 1862 kam Lassalle also, wie wir schon sagten, wieder nach Berlin und hielt hier zwei seiner denkwürdigsten Vorträge, die den Lebens- und Kulturanspruch der sogenannten „unteren" Volksklassen und den Fluß der sozialen Frage und der politischen Aktion bewirkt haben. Am 12. April sprach er vor dem in der Borsigstraße 20 tagenden Handwerker-Verein der Oranienburger Vorstadt „über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Gcschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes", eine Rede, die im gleichen Jahr bei dem Berliner Drucker-Verleger Karl Nobring erschien und später unter dem Titel „Arbeilerprogramm" in die Geschichte der sozialistischen Literatur eingegangen ist.
Diese von hoher geschichtlicher Objektivität, vollendeter gedanklicher Klarheit und sprachlicher Schönheit zeugende Rede wurde sofort nach ihrer Drucklegung auf Grund der Paragraphen 100 und 56 des Preußischen Strafgesetzbuches (Erregung von Haß und Verachtung zwischen Bevölkerungsklassen und Gefährdung des öffentlichen Friedens) konfisziert und gegen Lassalle Kriminalverfolgung eingeleitet. „Nichts ist mehr geeignet", so hieß es in dieser Rede, „dem Arbeiterstande ein würdevolles und tief sittliches Gepräge aufzudrücken, als das Bewußtsein, daß er berufen ist, seine Idee zur leitenden Idee der ganzen Gesellschaft zu machen."
Diese von hohem Ethos getragene Erkenntnis hatte auch auf die Leipziger Arbeiterschaft, die sich mit dem Verein „Vorwärts" von dem Gewerblichen Bildungsverein gelöst hatte, eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Lassalle erkannte in kluger Voraussicht, daß ihm mit dem Angebot des in Leipzig gegründeten „Zentralkomites zur Berufung eines deutschen Arbeiterlages", seine Ansicht über die Arbeiterbewegung und über die von Arbeitern anzuwendenden Mittel zur Befreiung aus dem Joch politischer und wirtschaftlicher Versklavung darzulegen, eine Gelegenheit gegeben war, „den Sozialismus plötzlich, wie durch einen Zauberschlag, als politische Partei auftreten zu lassen".
Später schrieb er den Leipzigern sein berühmt gewordenes „Offenes Antwortschreiben", das vom 1. März 1863 datiert, in 12 000 Exemplaren von Meyer & Zeller in Zürich verlegt und für einen Silbergroschen an die Arbeiter verkauft wurde.
Dieses „Offene Antwortschreiben", das am 23. Mai 1863 in der von Vertretern aus elf Städten beschickten konstituierenden Versammlung beraten wurde, ist die Geburtsurkunde des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins", der ersten umfassenden sozialdemokratischen Organisation, die Lassalle zu ihrem ersten, mit verhältnismäßig großen Machtvollkommenheiten ausgestatteten Präsidenten wählte.
Vier Tage nach seiner Handwerkervereinsrede trat Lassalle erneut auf den Plan. Die Kammer war aufgelöst, und der Wahlkampf hatte begonnen. Als nunmehr 37jähriger Politiker sprach er am 16. April 1862 in einem fortschrittlich-demokratischen Berliner Bürger-Bezirksverein „über Verfassungswesen". Dieser meisterhaft formulierte, mehrmals in anderen Bezirksvereinen wiederholte Vortrag, der überdies ebenfalls in Broschürenform erschien (G. Jansen, Berlin 1862), zeigt Lassalles hohen historischpolitischen Sinn, mit dem er die Verfassung nicht als ein Blatt Papier, sondern als Ausdruck der in einem Lande bestehenden talsächlichen Machtverhällnisse ausdeutete.
Beide Vorträge haben als klassische Schriflen der frühen Arbeiterbewegung, obwohl das Wort Sozialismus nicht in ihnen vorkam, auf die Entfaltung der von Lassalle während seines historischen Kampfes um das allgemeine und gleiche Wahlrecht ins Leben gerufenen Organisation der politisch und wirtschaftlich rechtlosen Massen einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt.
Im gleichen Jahr erschienen noch zwei weitere Schriften von Lassalle in Berlin, von denen der einen wiederum ein Vortrag zugrunde lag. Die nur im Druck erschienene Abhandlung war ein schonungsloses und witziges Pamphlet gegen den literarischen Wortführer des kleindeutschen Altliberalismus, Julian Schmidt, der zu den angesehensten Berliner Journalisten und Kritikern gehörte („Herr Julian Schmidt, der Literarhistoriker", G. Jansen, Berlin 1862); der Vortrag war eine auch bei G. Jansen erschienene Festrede „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes", die Lassalle am 19. Mai 1862 bei der von der Philosophischen Gesellschaft und dem Wissenschaftlichen Kunstverein in dem Arnimschen Saale veranstalteten Fichte-Feier hielt, deren Teilnehmer aber die abstrakte Gedankenfülle nicht aufzunehmen vermochten und ihr nicht standhielten, weil man lieber zum Essen gehen wollte.
In den darauffolgenden Jahren wirft sich Lassalle mit Feuereifer in die große Polilik. Preußen stand im Gewittersturm heftiger Auseinandersetzungen. Der unheilvolle Verfassungskonflikt begann mit der Frage der Militärreform, die den einen Zweck hatte, der Regierung ein verjüngtes, militärisch und politisch, zuverlässiges Werkzeug zu schaffen. Die Liberale Fortschrittspartei war in ihrer politischen Taktik und Methodik eine nu sich unausgeglichene Organisation, sie machte Geschäfte mit dem Dreiklassen-Wahlrecht, hatte aber auch eine starke oppositionelle Gruppe, die das allgemeine Wahlrecht forderte.
Einerseits wollte sich die Fortschrittspartei das Budget-Bewilligungsrecht nicht beschneiden lassen, vertrat aber auch die Idee des Volksheeres und wollte unter keinen Umständen eine Verstärkung der Militärmacht als Kampfmittel der reaktionären Machtgruppen. Da die dramatischen Auseinandersetzungen zwischen dem mächtig gewordenen Liberalismus und der sich um das Gottesgnadentum der Krone scharenden Feudalaristokratie unentschieden blieben, half man sich vorerst noch mit Provisorien.
Mit 308 gegen 11 Stimmen verweigerte das Abgeordnetenhaus am 23. September die Kosten der Heeresreform im ordentlichen und außerordentlichen Etat für 1862. Als es in der Frage der Dienstzeit zu keiner Lösung des Konflikts kam, berief Wilhelm I. am 24. September Otto von Bismarck an die Spitze des Ministeriums, der ohne Budget regierte und den Landtag im Auftrage des Königs am 13. Oktober auflöste.
Lassalle konnte für sich in Anspruch nehmen, rechtzeitig zu der Erkenntnis gelangt zu sein, daß Verfassungsfragen nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen sind. Während seiner Erkrankung läßt er seinen zweiten Vortrag über das Verfassungswesen am 19. November vor dem fortschrittlich-liberalen Bezirksverein Alt-Cöllns durch den Fortschrittler und Fabrikanten Ludwig Löwe, mit dem er befreundet ist, verlesen.
Er selbst wiederholt die Verfassungsrede am 10. Dezember 1862 und am 12. Januar 1863 in anderen Berliner Lokalen und läßt sie auch unter dem Titel „Was nun?" bei Meyer und Zeller in Zürich als Druck erscheinen. In dieser scharfsinnigen Analyse der turbulenten politischen und verfassungsmäßigen Zustände wendet er sich gegen den elenden Scheinkonstitutionalismus, ruft der Versammlung zu, daß die Kammer aussprechen müßte ,,das, was ist", und erinnert an das bekannte Bonmot Talleyrands: „On peut tout faire avec les bayonettes excepté s'y asseoir" - „Man kann alles machen mit den Bajonetten, nur nicht sich darauf setzen".
Sein ganzes Sinnen ist nunmehr auf die Agitation für eine andere organisierte Macht gerichtet, die nicht allein die Lösung der sozialen Frage auf dem Wege über die von der Arbeiterschaft zu bildenden Produktivassoziationen im Auge hat, sondern erst einmal durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht als demokratisches Grundprinzip zu einem politisch mitbestimmenden Faktor im Staate wird.
Nachdem, wie wir schon oben sagten, der 1863 ins Leben gerufene „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" sich unter großen Schwierigkeiten sein erstes selbständiges politisches Auftreten erkämpfte, war es Lassalles nächste Aufgabe, die Arbeiterschaft aus der Gefolgschaft der politisch kompromißfreudigen und in ihren sozialen Forderungen besitzbürgerlichen Fortschrittspartei zu lösen. Zu den Berliner Arbeitern hatte er kein besonders nahes Verhältnis.
Der sich am 18. Januar 1863, also noch vor der Gründung der zentralen Organisation konstituierende „Allgemeine Berliner Arbeiterverein" stand unter dem Einfluß des kleinbürgerlichen Sozialreformers Schulze-Delitzsch, der in genossenschaftlichen Selbsthilfevereinigungen der sozialen Weisheit letzten Schluß sah. Die von Schulze-Delitzsch im „Allgemeinen Berliner Arbeiterverein" gehaltenen Vorträge über ,,Kapital und Arbeit" veranlaßten Lassalle, nachdem sie im Druck erschienen waren, zu der 1863/64 niedergeschriebenen Gegenschrift „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch" (Reinhold Schlingmann, Berlin 1864).
Die Lassalleaner unter der Mitgliedschaft versammelten sich bis zum Herbst 1863 in der Privaiwohnung des Mitgliedes Theodor Metzner. Später fand man sich in dem Saal des Lokals zum Admiralsgarten, Friedrichstraße 102, in der Mauerstraße und im Lokal von Denkewitz in der Französischen Straße 49 zusammen. Am 22. November 1863 konnte Lassalle seine erste öffentliche Versammlung im Wollschlägerschen „Eldorado", Ecke Berg- und Torstraße (die jetzige Nordseite der Elsässer Straße) noch außerhalb der damaligen Stadtmauer abhalten, die sehr stürmisch und zugunsten von Schultze-Delitzsch verlief.
Schon am Morgen des Versammlungslages war ihm ein Verhaftungsbefehl präsentiert worden, der wegen seiner auch von R. Schlingmann, Berlin, vorgelegten Ansprache „An die Arbeiter Berlin" erfolgte, die zu dem Hochverratsprozeß am 12. März 1864 vor dem Staatsgerichtshof führte, in dem er aber nach geschickter Selbstverteidigung freigesprochen wurde. Der als Flugschrift bei R. Schlingmann in Berlin erschienene stenografische Bericht „Der Hochverratsprozeß wider Ferdinand Lassalle" wurde beschlagnahmt. Vor der Erhebung der Anklage starb der große Agitator an den Folgen eines Duells am 31. August 1864.
Bismarck und Lassalle
Mit Berlin ist Ferdinand Lassalle zu alledem aber noch durch die Beziehungen zu seinem großen Antipoden Bismarck verbunden gewesen. Über das wirkliche Verhältnis dieser beiden Männer zueinander ist jahrzehntelang nichts Eindeutiges bekanntgeworden. Wohl haben Bismarck wie auch August Bebel zu der Frage, wer die erste Verbindung gesucht habe, im Reichstag September 1878 Stellung genommen. Hier, wo es lediglich darauf ankommen soll, Lassalles Berliner Wirksamkeit in Umrissen zu schildern, ist die Frage müßig, ob Bismarck den ersten Schritt getan hat, wie es Bebel auf Grund von Mitteilungen der Gräfin Hatzfeldt behauptete, oder Lassalle, wie Bismarck darlegte.
Angesichts der Vorsicht, die der revolutionäre Politiker verständlicherweise der Öffentlichkeit gegenüber an den Tag legen mußte, um seinen Gesinnungsgenossen nicht verdächtig zu erscheinen, ist eher anzunehmen, daß Bismarck Lassalle zu sich gerufen hat, wogegen auch nicht die Behauptung des konservativen Staatsmannes zu sprechen braucht, dem wahrscheinlich die diplomatische Form der Annäherung nicht mehr ganz gegenwärtig gewesen sein wird. Kein Zweifel kann aber darüber bestehen, daß beide das Bedürfnis nach Gedanken- und Meinungsaustausch hatten, auch wenn eine direkte politische Notwendigkeit nicht vorlag.
An der Klärung dieser Beziehungen zwischen den beiden Männern, die die stärksten politischen Kräfte jener Epoche waren, haben die Historiker Hermann Oncken und Gustav Mayer besonderen Anteil. Vor allem Gustav Mayer. Denn erst, als um die Jahreswende 1927/28 ein altersschwacher Aktenschrank im Preußischen Staatsministerium zusammenbrach, kam der längst verschollen geglaubte Briefwechsel Lassalle/Bismarck ans Tageslicht, den dann Gustav Mayer mit Erlaubnis des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun veröffentlichte und damit in historisch-kritischer Durcharbeitung ein ziemlich lückenloses Bild der aufschlußreichen und denkwürdigen Beziehungen gab. (Gustav Mayer „Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche." I. H. W. Dietz Nachf., Berlin 1928).
Als Bismarck 1862 Ministerpräsident wurde, hat ihn Lassalle „einen durchaus reaktionären Burschen und Junker genannt". Aber schon wenige Wochen später schien ihm der Protagonist des preußischen Militär- und Junkerstaates wert, von ihm anerkennend apostrophiert zu werden. In seiner zweiten Berliner Verfassungsrede „Was nun?" vom 19. November erklärte er, daß der Ministerpräsident „als ein tiefer und feiner Kenner des Verfassungswesens" ganz und gar auf dem Boden seiner Theorie stünde, und daß dieser „vortrefflich weiß, wie die wirkliche Verfassung eines Landes nicht in dem Blatt Papier, sondern in den tatsächlichen Machtverhältnissen besteht und nur aus diesen die staatsrechtliche Praxis bestimmt wird."
Lassalle, dem Politik eine Kunst bedeutete, hatte den Instinkt und den realistischen Blick für kommende Möglichkeiten. Und auch der Brief der Gräfin Halzfeldt an ihn, in dem sie schrieb, daß sie glaube, daß mit dem Minister politische Geschäfte großen Stils zu machen wären, wird nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben sein. Es ist naheliegend, daß der Kampf gegen das Bürgertum beide zusammengeführt hat. Beide waren Hasser der Liberalen, wenn auch aus verschiedenen Motiven.
Lassalle, der um die geistige und organisatorische Verselbständigung des Arbeiterstandes bemüht war, forderte dessen Emanzipation von dem bürgerlichen Liberalismus. Bismarck, als Schildwacht des Hofes, der höheren Verwaltungsbürokratie, der Militärkaste und des grollen Grundbesitzes war der Verfassungsdoktrinarismus der Fortschrittspartei ein Dorn im Auge. Der eine wollte gegen die Verfassung zu größerer Macht kommen, der andere als Exponent einer dritten, sozialreformerischen und staatsumgestaltenden Partei. So haben sich beide Politiker in dem gemeinsamen Wollen, die Übermacht der Fortschrittspartei zu brechen, zusammengefunden.
Der erste Brief des Ministerpräsidenten aus dem von Gustav Mayer neuerschlossenen Material ist vom 11. Mai 1863 datiert und enthielt die Aufforderung an Lassalle, sich gutachtlich über die Lage der arbeitenden Klassen zu äußern und ihn mit einem Besuch zu beehren. Wie oft Lassalle in der Wilhelmstraße 74 war, läßt sich nicht genau feststellen; es gibt aber verschiedene Hinweise dafür, daß es etwa ein dutzendmal gewesen sein muß.
Der Inhalt des 21 Nummern umfassenden Briefwechsels deutet auf eine Reihe von Gesprächen, die sich auf die Politik im allgemeinen, aber auch auf das Verhältnis der Arbeiter zu den politischen Vorhaben des konservativen Inhabers der staatlichen Machtmittel bezogen. So kam man auf die Steuerreform, auf die Frage der Produktivassoziationen und des Prinzips der Staatshilfe, auf das allgemeine und direkte Wahlrecht, auf die Allianz mit Österreich und auf das schleswig-holsteinische Krisenproblem zu sprechen. Mit aller Offenheit hat Lassalle auf die Gefahren hingewiesen, die durch die Gewaltherrschaft für die zukünftige Gestaltung der staatsrechtlichen Verhältnisse erwuchsen, er hat das Menetekel der „ernsten Stunde" an die Marmorwände der Dynastie geschrieben, etwa bei einem Krieg, in dem man nicht gegen die arbeitenden Massen, die man durch das bestehende Dreiklassen-Wahlrecht des politischen Einflusses beraube, regieren könne.
Demgegenüber war Bismarck, dem ein Staatssozialismus näher stand als die Demokratie, eher geneigt, „das soziale Element der Arbeiterbewegung durchzuführen als das politische".
Dem Briefwechsel ist zu entnehmen, daß es sich bei den Gesprächen um ein von beiden Seiten souverän und selbstbewußt geführtes Duell zwischen dem Schüler Hegels und einem Realisten inadiiavellislischer Prägung handelt, die sich beide in ihrem Freimut nichts nachgaben. Seine politischen und sozialen Konzeptionen im Auge behaltend und ohne seine persönliche Unabhängigkeit aufzugeben, hatte Lassalle sicher geglaubt, mit der „List der Idee" und durch diplomatische Mittel revolutionäre Ziele erreichen zu können.
Als einmal der kühne Tribun der Freiheit dem mächtigen Vasallen der Dynastie in einem Gespräch zu verstehen gab, daß es wohl so scheinen möge, als sei eine Allianz zwischen den Arbeitern und den Konservativen möglich, sie aber nur eine kurze Strecke miteinander gehen würden, um sich dann erbitterter zu bekämpfen, erwiderte dieser: „Ach, Sie meinen, es kommt darauf an, wer von uns der Mann ist, der mit dem Teufel Kirschen essen kann".
Aus diesem Gespräch wie aus anderen Zeugnissen, aus denen die Beziehungen zwischen diesen beiden Mannern bis in ihre „metaphysischen Tiefen" deutlich werden, ist ersichtlich, daß Bismarck die überragenden, für ihn aber auch gefährlichen politischen Fähigkeilen des revolutionären Denkers und Agitators erkannt hatte. So sagte der Kanzler in der Reichstagssitzung vom 16. September 1878:
„Was er hatte, war etwas, das mich als Privatmann außerordentlich anzog: er war einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen, mit denen ich je verkehrt habe. Lassalle war ein energischer und geistreicher Mensch, mit dem zu sprechen sehr lehrreich war; unsere Unterredungen haben stundenlang gedauert, und ich habe immer wieder bedauert, wenn sie zu Ende waren. Ich bedaure, daß seine politische Stellung und die meine mir nicht gestatteten, viel mit ihm zu verkehren, aber ich würde mich gefreut haben, einen ähnlichen Mann von dieser Begabung und geistreichen Natur als Gutsnachbarn zu haben". Die Berührungen und Beziehungen zwischen Bismarck und Lassalle haben einen tiefen historischen Sinn. Ihr Werk war die Zusammenfassung der stärksten politischen Lebenskräfte der preußisch-deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre, deren Nachwirkungen im Wechselspiel der Zeiten noch heute spürbar sind. Lassalle gebührt der Ruhm, eine Entwickhing hervorgerufen zu haben, die auf dem von jeher heißen Kampfboden Berlins eme neue Volksbewegung von der Sekte zu einem politisch mitbestimmenden Faktor im Staate erhob.
Aus: "Verein für die Geschichte Berlins. Jahrbuch 1951", herausgegeben von Ernst Kaeber, Berlin 1951, S. 65-79.