Der Mord in der Königsallee
Im Gedenken an Walther Rathenau
Von Ernst G. Lowenthal

"Will man ermessen, was die Kunst des Gedankens bedeutet, so mag man sich erinnern, daß das Epochale in der Geschichte des Menschengeistes errungen wurde nicht durch neue Gedankeninhalte, sondern durch neue Denkformen. Die Erfindung des Problems ist wichtiger als die Erfindung der Lösung; in der Frage liegt mehr als in der Antwort."

Aphoristische Äußerungen wie diese, den Notizbüchern entnommen, die Walther Rathenau (Berlin 1867-1922) zu Anfang dieses Jahrhunderts führte und die nahezu dreißig Jahre nach seinem Tod auszugsweise veröffentlicht wurden, sind weniger bekannt als die Tatsache, daß er einmal für kurze Zeit, fünf Monate lang im Jahre 1922, Reichsaußenminister war. Rathenau war eben nicht nur als praktischer Ingenieur mit der Industrie (A.E.G.) verbunden, er war nicht allein der Wirtschaftspolitiker, der 1914/15 die Rohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium leitete, und er war nicht bloß Politiker von staatsmännischem Format. Vielmehr war er zutiefst zeitkritischer Denker, Autor auch von Abhandlungen philosophischen, wirtschaftlichen und sozialen Inhalts. Das lassen schon die Titel einiger seiner Schriften erkennen: "Zur Kritik der Zeit" (1912), "Mechanik des Geistes" (1913), "Von kommenden Dingen" (1917).

Obwohl er sich schon früh mit Literatur und Philosophie sowie mit wirtschaftlichen Problemen befaßt hatte, studierte er in erster Reihe technische Fächer - war er doch dazu ausersehen, eines Tages in die Leitung des von seinem Vater Emil Rathenau (Berlin 1838-1915) 1887 in Berlin gegründeten Unternehmens der Elektroindustrie, der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (A.E.G.), einzutreten.
Aber das geschah erst 1899, als der Sohn 32 Jahre alt war. Zunächst hatte sich der junge Dr. phil. als Techniker und Elektrotechniker in Betrieben außerhalb Berlins erprobt. 1902 schied er aus dem A.E.G.-Direktorium wieder aus, um, unter Beibehaltung eines Aufsichtsratsmandats, Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft, einer Großbank von bemerkenswertem Ansehen, zu werden. Die dadurch entstandenen Verbindungen zu zahlreichen inländischen und ausländischen Industriefirmen und, dazu, weite Reisen, die er auf Wunsch der Regierung unternahm, weiteten seinen Blick für wirtschaftliche Zusammenhänge. Für Rathenau waren Wirtschaft und Politik immer untrennbar miteinander verbunden. 1915, nach des Vaters Tod, trat er an die Spitze der A.E.G.

Die aufsehenerregende Abhandlung des Jahres 1917 "Von kommenden Dingen", die gewisse, auf die Planwirtschaft hindeutende wirtschaftliche und soziale Entwicklungen voraussah, war zwar für den Verfasser ein literarischer Erfolg, führte aber in Deutschland nicht zu der Erkenntnis, daß hier ein über den Dingen des Alltags stehender, unabhängig denkender Mann sprach, dazu ein pflichterfüllter Patriot, dem ein führender Platz im öffentlichen Leben gebühre.

Erst 1919 wurde er von der Reichsregierung zur Mitarbeit an den Friedensverhandlungen herangezogen. Im darauffolgenden Jahr war er Mitglied der Sozialisierungskommission. 1920 nahm er an der Reparationskonferenz von Spa (Belgien) und 1921 an den Vorbereitungen zur Londoner Konferenz teil. Reichskanzler Joseph Wirth (1879-1956) machte ihn 1921 zum Wiederaufbauminister; in diesem Amt verblieb Rathenau jedoch nur knapp ein halbes Jahr.

Am 1. Februar 1922 zum Reichsaußenminister berufen, vertrat er das Deutsche Reich im gleichen Jahr auf der Weltwirtschaftskonferenz in Genua und schloß bald danach in Rapallo den Vertrag mit der Sowjetunion ab, der die Beziehungen zwischen den beiden Ländern normalisieren sollte. Rathenaus Wirken für den Frieden hat, das ist unbestritten, dem Ansehen Deutschlands in der Welt viel genutzt, auch wenn er wegen der von ihm verfolgten Politik von rechtsradikaler, judenfeindlicher Seite heftig befehdet wurde. Aus diesen Kreisen stammten auch die verhetzten jungen Männer, deren Kugeln ihn am 24. Juni 1922 auf dem Weg von seiner Grunewaldwohnung ins Auswärtige Amt an einer Kurve in der Königsallee tödlich trafen.

Wenn man heute, 50 Jahre nach dieser grauenvollen Tat und nach Ablauf einer schweren, von Haß, Krieg und Spannung erfüllten Periode, Walther Rathenaus ehrend gedenkt, so wird offenbar, wen Europa und Deutschland und wen Berlin verloren hatte. Und im Rückblick liegt die Frage nahe, ob ein Mann von der geistigen Kapazität, der reichen praktischen Befähigung und Erfahrung und der politischen Potenz eines Rathenau, wären ihm mehr als nur 55 Lebensjahre vergönnt gewesen, die wirtschaftliche Entwicklung und den politischen Trend der zwanziger und der dreißiger Jahre zum Besseren hätte wenden können. Indes, solche Hoffnungen wurden schon 1922 zunichte gemacht durch rechtsradikale Kräfte, die schließlich die Oberhand gewannen und Volk und Land in Tod und Vernichtung trieben.

Aus: "Mitteilungen" 3/1972