Michael Romahn (1956 - 1999), Gipskunstformmeister
Hubert Olbrich
Zu den "Sonstigen Einrichtungen" der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz gehört die seit 1840 bestehende Gipsformerei. Ihre Aufgabe, Formen bedeutender Kunstwerke zur Herstellung von Kopien zu sammeln, erfüllte sie zunächst auf der Museumsinsel in einer Werkstatt im Alten Museum. Seit 1891 befindet sich diese in Charlottenburg in der Sophie-Charlotten-Straße 17-18. Die Sammlung der Gipsformerei enthält mehr als 7.000 Formen verschiedener Objekte (Freiplastiken, Reliefs, Medaillen) aus dem In- und Ausland, darunter Kopien wertvoller Kunstwerke aus fünf Jahrtausenden. Zur Leitung der Werkstatt, die handwerkliches Können und künstlerischen Sachverstand voraussetzt, ist gediegene Erfahrung im Spezialberuf der Gipskunstformerei erforderlich. Jede Ausbildung in einem Lehrberuf setzt erfahrene Lehrmeister voraus, die es für Gipskunstformer nicht mehr gibt. Selten gewordener Bedarf hat schon manchen Beruf aussterben lassen. Früher hatte jedes Dorf seinen Stellmacher. Und heute?
In Berlin hat die Gipsformerei auf einen artverwandten Beruf zurückgegriffen. Als gelernter Stukkateur trat Michael Romahn am 15. April 1985 in den Dienst der Gipsformerei. Sein ehrgeiziges Streben nach Fortkommen und sein engagiertes Trachten, sich die Qualifizierung als Gipskunstformer anzueignen, war konsequent. Im Januar 1996 wurde ihm die Leitung der Gipsformerei kommissarisch, am 1. Juli 1997 endgültig übertragen, und zwar nach der erfolgreich abgelegten Meisterprüfung unter Übernahme in das Angestelltenverhältnis. Die fruchtbare, auch weiterhin erfolgverheißende Tätigkeit als Meister der Gipsformerei fand am 23. März 1999 ein jähes Ende.
Berlin hat mit dem hochtalentierten Fachmann einen aktiven "Gipskunstformermeister" verloren. Seinen Willen, auch schwierige Aufgaben anzugehen und Verantwortung dort übernehmen, wo andere zagten, bezeugen wertvolle Abgüsse und Restaurierungsleistungen. Seiner offenen Art war Geheimniskrämerei abhold. Seine menschliche Haltung, fachliche Kompetenz und ausgeprägte Hilfsbereitschaft fanden im Arbeitsklima seiner großen Werkstatt ein harmonisches Echo. Sein Testament vom 16. März 1999, das er im Bewusstsein des hohen Operationsrisikos vor dem Gang ins Herzzentrum des Rudolf-Virchow-Krankenhauses verfasste, galt mit einem Zehn-Punkte-Programm seiner Werkstatt, ein unsentimentales Dokument mit klaren Anweisungen. Der Schlusspunkt lautete: "Anbei sind 500 DM, dieses Geld ist meine Abschiedslage. Macht's gut und gebt dem neuen Meister 'ne Chance."
Michael Romahn wurde am 3. Februar 1956 in Berlin-Mitte geboren. Seine Lehrzeit als Stukkateur begann am 1. September 1972 mit Arbeiten zur Restaurierung von Schloss Friedrichsfelde. Sie umfasste den Bau, Zugarbeiten mit Schablonen, Formbau (Leim-, Silikonkautschuk-, Gips- und kombinierte Form), Dreharbeiten mit Schablonen für Säulen und Basis, Gußarbeiten mit anschließender Retuschierung bei der Endmontage, Zusammensetzung der Gussstücke am Kapitell. Zu seinen Lehrern gehörten der Leiter der "Fachgemeinschaft Künstlerische Gipsarbeiten" und Horst Wilcke (Diplom-Gewerbelehrer und Bauingenieur), Verfasser des einschlägigen, in Ost und West anerkannten Fachbuches "Stuck- und Gipsarbeiten", Berlin 1972, 8. Auflage 1988.
Nach Abschluss der Arbeiten am Schloss Friedrichsfelde verlagerte sich die Tätigkeit: Spann- und Putzarbeiten auf verschiedenen Baustellen und Fertigteilmontage. Eine glückliche Ausnahme war 1975 ein Projekt zu indirekter Beleuchtung, für das Michael Romahn sämtliche Formen für die Lichtschächte anfertigte, einschließlich verschiedener Verkröpfungen. Als ihm die Leitung einer neuen Restaurationsbrigade angetragen wurde, diese aber nicht zu Stande kam, schwanden motivierte Hoffnungen beim folgenden Einsatz im sozialistischen Wohnungsbau, wo Qualität nicht zählte, sondern nur Quantität bei Einheitsentlohnung.
Michael Romahn wandte sich an die Komische Oper Berlin, fand als Dekorateur bei der Bühnentechnik künstlerische Aufgaben und in Sylvia Marianne Mann, Verwaltungsangestellte des Hauses, eine vielseitig aufgeschlossene Partnerin. Die Hochzeit war am 4. Juni 1981.
Am 2. April 1984 übersiedelte das Ehepaar Romahn mit Genehmigung der DDR nach Westberlin. Was sich zuvor abgespielt hatte? Formular-Eintragungen im Verfahren gemäß Notaufnahmegesetz (BGBl. 1960, S. 367; 1961, S. 1883) spiegeln Schikane und organisierte Anfeindungen in der Wartezeit. Die Eintragungen lauten im Formularfeld "Erlernter Beruf": Stukkateur, im Formularfeld "Ausgeübter Beruf": Glas- und Gebäudereiniger.
In Westberlin arbeitete der 28-jährige Umsiedler sofort wieder im erlernten Beruf und fand beglückende Unterschiede zu den Arbeitsbedingungen in der DDR. Vor allem die "Unzahl" der verfügbaren Spezialwerkzeuge, die das Arbeiten erleichterten und verbesserten, beeindruckten ihn stark. Noch im Bewerbungsschreiben vom 18. Februar 1985 zur ausgeschriebenen Gipsformer-Stelle bei den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz erwähnte er als Erfahrung: "Diese Vielzahl von Hilfsmöglichkeiten waren in der DDR undenkbar."
Michael Romahn spürte mit Leidenschaft alten Techniken nach, um sie für moderne Ansprüche zu prüfen und anzuwenden. Er arrangierte um 1994/95 ein Wachsseminar in Berlin. Hierfür gewann er eine hochbetagte Spezialistin, Frau Walther, die vormals in Dresden für das Deutsche Hygiene-Museum zahlreiche Objekte geschaffen hat, wie heute kaum noch jemand. Er wusste zusammengetragene Erfahrungen für Abformungen, Abgüsse und die Restaurierung zu nutzen, verfügte über maskenbildnerische Kenntnisse, verstand sich in der Moulagetechnik und im Arbeiten mit Bossierwachs. Dokumentiert wurde hiervon nichts.
Vieles bleibt darum unerwähnt. Selbstvertrauen, handwerkliche Meisterschaft, die an künstlerische Fähigkeiten heranreicht, Augenmaß und Gelassenheit standen hinter seiner optimistischen Bereitschaft, wagende Verantwortung zu übernehmen. Das zeigte sich besonders bei zwei wertvollen Abgüssen. Sie sind im Besitz der zur Freien Universität Berlin gehörenden "Abguss-Sammlung antiker Plastik" in Charlottenburg: der "Herakles Farnese" und der Farnesische Stier. Die Originale befinden sich im Nationalmuseum Neapel.
Vom "Herakles Farnese" hatte Dr. Klaus Stemmer in der in Berlin eingelagerten alten Jenenser Sammlung einen kostbaren Abguss entdeckt, leider ziemlich beschädigt. Reinigen, Zusammensetzen, Ergänzen fehlender Stellen und der nachfolgende Abguss (1988) setzten Meisterhand voraus.
Dem vorhandenen Abguss vom Farnesischen Stier standen heikle Prozeduren bevor. Ein verlorengegangener Zinkabguss stand nämlich früher als Brunnenplastik vor der Orangerie in Potsdam. Als man dort 1997 für die Ausstellung zu Friedrich Wilhelm IV. den Berliner Abguss zur Präsentation wünschte, gab es erhebliche Bedenken und starke Vorbehalte. Um den Giganten überhaupt transportieren zu können, musste der tonnenschwere Abguss in seine Hauptteile zerlegt werden. Doppelter Ortswechsel, zweifacher Abbau und Aufbau, aber ohne Spuren zu hinterlassen. Aber die hat es auf der Hinfahrt des Tiefladers bereits gegeben: erheblicher Versicherungsschaden (50.000 DM). Abhilfe in Eile war geboten. Ein gewagtes Unterfangen. Da traute sich niemand sonst, aber Michael Romahn bewältigte die schwierigen Aufgaben mit Bravour, einschließlich umfangreicher Nacharbeiten an der heimgekehrten Skulptur.
Für die Schadow-Ausstellung (Düsseldorf, Nürnberg, Berlin 1994/95) wurde das überaus kostbare Marmor-Original "Kronprinzessin Luise und ihre Schwester Prinzessin Friederike" (1795) nicht freigegeben. Infrage kam nur eine Abgusskopie. Besorgte Museumsleute widersprachen dem Plan. Michael Romahn war sich seines Könnens sicher. Er zerstreute die Bedenken und garantierte Unversehrtheit des Originals und fehlerfreien Abguss. Dieser befindet sich heute in der von der Heydt-Villa, dem Dienstsitz des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Lebendabformungen gelten als recht schwierig und besonders im Kopfbereich als riskant. Mit gewagter Abformung unter Zeitdruck erfüllte Michael Romahn 1993 den Auftrag des vielseitigen Künstlers Robert Wilson (geboren 1941). Dieser verlangte die Abformung eines lebenden Menschen in ungewöhnlicher Pose, nämlich balanzierend auf der Kante einer Kirchenbank in der Grenzsituation zwischen Stabilität und Instabilität, zwischen Stehen und Fallen, auch deutbar als letzter Moment des Lebens der zum Absprung in den Tod bereiten Figur. Dazu wählte der Künstler als Modell einen Statisten der Schaubühne von 2,17 Meter Größe. Professor Dr. Wolf-Dieter Dube, Generaldirektor der Staatlichen Museen, stimmte im Vertrauen auf das Können von Michael Romahn der auf nur vierzehn Tage terminierten Auftragsausführung zu. Sie wurde eingehalten (Abguss und Wachsarbeit). Ergänzt um zwei Wachsskulpturen anderer Herkunft war das Ensemble vom 16. September bis 23. Oktober 1993 in der Galerie Frank & Schulte, Mommsenstraße 56, Berlin ausgestellt. 1994 erwarb die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Mitteln der Deutschen Klassenlotterie das Environment für die Dauerausstellung im Museum für Gegenwart im Hamburger Bahnhof.
Eine andere Lebendabformung erfolgte im Auftrage einer Ludwigshafener Firmengruppe: Büste (bronziert, Abguss 1995; Abbildung in: Die Branntweinwirtschaft 1999, S. 123) sowie Lebendmaske, beide vom langjährigen, 1994 im 71. Lebensjahre ausgeschiedenen Direktor des Zucker-Museums, Hubert Olbrich. Die Abgüsse erhielt das Museum als Geschenk.
Wohl kaum noch feststellbar ist die Anzahl der Abformungen und Abgüsse, die Michael Romahn vorgenommen hat. Als stellvertretende Beispiele für andere seien genannt: Knabenkopf, Philosophenkopf, Sirene auf Sockel, Kykladenfigur, halbplastisches Kapitell und die bereits 1988 aufwendig restaurierte Säule Marc Aurels der Charlottenburger Abguss-Sammlung; Bronzeskulpturen des Professors Arthur Lewin-Funcke (1866-1937) im Auftrage der in Detmold lebenden Enkelin Karin Weyert, und zwar die "Hingebung", 1916, 169 cm, aus dem Besitz des Botanischen Gartens, und von weiteren Bronze-Skulpturen des Künstlers: "Auflehnung", 1927, 84 cm, und die "Licht" genannte Darstellung eines blinden Mannes, der plötzlich Licht fühlt (1927, 105 cm). Lassen wir es dabei bewenden.
Offen bleiben Fragen. Warum wird mit beanspruchender Ausschließlichkeit nur der Name des geistigen Urhebers als Schöpfer eines Kunstwerkes allein genannt? Ist traditioneller Geniekult gerecht und zeitgemäß? Kann die bloße, ein Kunstwerk begründende Idee auf elitär ausgrenzende Nominierung pochen? Obwohl doch die kunstfertige Umsetzungstat oft nur den Ausführenden zu danken ist, bleiben sie in der Regel ungenannt. Darf man souveräne Handwerkskunst ignorieren und deren faktische Miturheberschaft leugnen, insbesondere dort, wo geistige Väter mangels Fähigkeiten zur tätigen Ausführung der eigenen Idee nicht in der Lage sind?
Ohne die Abformungen und Abgüsse durch Berlins früh verstorbenen Gipskunstformmeister Romahn gäbe es verschiedene Kunstwerke nicht. Schadow schuf die Prinzessinnengruppe im Original; deren Abguss aber ist das Werk von Michael Romahn. Darauf kommt aber keiner, der heute in der Dienstvilla des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz daran vorbeigeht.
Für Michael Romahn gilt das Wort: Lang ist die Kunst und kurz die Zeit. Nach Ernst Renan (1823-1892) bedeutet das: "Ein ungeheurer Fluss des Vergessens reißt uns in einen Abgrund ohne Namen."
Quellen:
Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz (SMPK): Generaldirektor und Personalrat: gemeinsames Rundschreiben vom 25. März 1999.
Dr. Günther Schauerte: Kondolenzschreiben vom 25. März 1999 an die Witwe.
Rückfragen, Auskünfte, private Mitteilungen (Dezember 2000): Dr. Ehrhard Albrecht, Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin.
Dr. Eugen Blume, Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart SMPK.
Dr. Bernhard Maaz, Alte Nationalgalerie SMPK.
Sylvia Romahn, Berlin.
Hans Schelkle, Restaurator, Berlin.
Thomas Schelper, Gipsformerei SMPK.
Manfred Schörner, Kunstforum SMPK.
Thomas Schulte, Galerie Frank & Schulte, Berlin.
Dr. Klaus Stemmer, Abguss-Sammlung antiker Plastiken, Berlin.
Hans Thiemann, Schaubühne Berlin.
Karin Weyert, Detmold
Aus: "Mitteilungen" 4/2002