Richard Roesicke - Sozial geprägter Wirtschaftler und Politiker
24.7.1845 Berlin - 21.7.1903 Berlin
Von Joachim Strunkeit
"Wenn der Staat berechtigt ist und berufen ist, das Eigentum der besitzenden Klassen, das Kapital der Unternehmer durch Gesetz und Polizei zu schützen, so sehe ich nicht ein, warum er nicht auch verpflichtet sein sollte, die Arbeitskraft der Arbeiter, das einzige Eigentum der Besitzlosen, zu schützen."[1]
Geradezu revolutionär klingen die Worte aus dem Jahr 1887, nicht geschrieben von einem Klassenkämpfer oder sozialistischen Eiferer, sondern von Richard Roesicke, Generaldirektor der Schultheiss-Brauerei AG. Ein Mann von fortschrittlicher sozialer Gesinnung, in einem Namenszug zu nennen mit Männern wie Friedrich und Alfred Krupp, Lujo von Brentano und Ernst Abbe - Sozialreformer aus Industrie, Politik und Wissenschaft.
Von nicht voraussehbarer, aber dennoch ausschlaggebender Bedeutung für den beruflichen und politischen Werdegang von Richard Roesicke, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt, war die Errichtung der ersten norddeutschen Lagerbierbrauerei in Berlin.
Richard Roesicke wurde am 24. Juli 1845 in Berlin als Sohn des Kaufmanns Alfred Roesicke und dessen Ehefrau Pauline, geborene Goschenhofer - ein Name, der damals vielen Berlinern in Verbindung mit einem anerkannten Geschäft der Leinen- und Wäschebranche geläufig war -, geboren.
Seine schulische Ausbildung erhielt Richard Roesicke auf dem Französischen Gymnasium, das er, wie zu seiner Zeit für angehende Kaufleute üblich, mit der Primarreife verließ, um anschließend bei dem Tuchhändler Ferdinand Heuer in Frankfurt am Main eine Lehre anzutreten. 1864, nach Abschluß derselben und Rückkehr in seine Heimatstadt Berlin, wurde ihm von seinem Vater die kaufmännische Leitung der im gleichen Jahr von Jobst Schultheiss erworbenen Brauerei anvertraut - im Alter von gerade 19 Jahren. Ein nicht wenig riskantes Unterfangen, fehlte dem jungen Richard doch jegliche Erfahrung im Brauereigewerbe und nicht minder in Hinblick auf die mit einer solchen Position verbundenen Menschenführung. Doch die Prägung seiner Persönlichkeit durch die ihm übertragene Aufgabe war außergewöhnlich stark und ließ einen Unternehmensführer mit großen Organisations- und Führungsqualitäten heranwachsen, der auch in der Politik, hier spezielle im sozialen Bereich, eine hervorragende Stellung einnahm.
Sicherlich wurde der Grundstein zu dieser Befähigung schon in seiner Jugend durch das innige Verhältnis zu seinem Vater gelegt, der ihm zeit seines Lebens ein Vorbild an Tüchtigkeit, ausgeprägter Klugheit, Fleiß und nie erlahmender Ausdauer geblieben ist, und da er sich selbst als Mensch und Schaffender zu den komplizierten Naturen zählte, waren die vorgenannten Charaktereigenschaften für sein erfolgreiches Leben unabdingbar.
Seinen Mitmenschen gegenüber offenbarte er sich erst in kleinem und vertrautem Kreis. "Überhaupt haben alle Leute Angst vor mir, und sie zeigen mir das", äußerte er sich gegenüber Freunden. "Ich weiß, daß ich so bin, das liegt aber in meiner Natur."[2] Um dem entgegen zu wirken, wurde er in seinem Elternhaus schon in jungen Jahren mit bedeutenden Menschen zusammengeführt, so unter anderem mit dem Schriftsteller und Literaturhistoriker Adolf Stahr und dessen Frau Fanny Lewald, dem Begründer der Nationalzeitung, Dr. Wolf, dem Maler und Graphiker Professor Theodor Hosemann, dem Geheimen Kommerzienrat und Industriellen Louis Schwarzkopff und dem Prediger Weitling.
Es war nicht seinem Reichtum zu verdanken, daß er im Laufe seines Berufslebens ein großes Brauereiunternehmen schuf, sondern ausschließlich seiner Intelligenz, seiner Tatkraft und der immerwährenden Zuversicht, erfolgreich zu sein. Sein Auge war immer geradeaus gerichtet, Abgeschlossenes und Fertiges verlor jeglichen Reiz für ihn.
War der Brauereibetrieb, den Richard Roesicke 1864 übernahm, mit einem Jahresausstoß von ca. 10.000 hl zur damaligen Zeit als klein bis mittelgroß anzusehen, steigerte die daraus erwachsende Schultheiss-Brauerei Dank seiner organisatorischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten den Ausstoß bis 1903, dem Jahr seines Todes, auf 937.000 hl und hatte sich damit zur größten europäischen Brauerei entwickelt, eine Position, die sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs beibehielt.
Übernahm Richard Roesicke den Brauereibetrieb mit den beiden Standorten Neue Jakobstraße 24-26 und Schönhauser Allee 39 - letzterer damals weit vor den Toren Berlins gelegen - war er bereits drei Jahre später durch den stark gestiegenen Bierabsatz - die Bevölkerung der Stadt hatte sich von knapp 350.000 Einwohnern im Jahr 1840 auf fast eine Million im Jahr 1870 entwickelt - gezwungen, den gesamten Braubetrieb nach entsprechendem Ausbau in der Schönhauser Allee zusammen zu fassen, zur späteren Abteilung 1.
Hier sei angemerkt, daß diese Braustätte im Bereich Schönhauser Allee, Sredzki- und Knaackstraße in den Jahren 1889 bis 1890 nach den Plänen des Architekten Franz Schwechten in ockerfarbenem Backstein in Formen der Neorenaissance umgestaltet wurde. Sie ist nach fast schadlos überstandenem Krieg als "Kulturbrauerei" in dieser Form erhalten, nachdem sie 1965 stillgelegt worden war.
Die durch ständige Betriebsvergrößerung in immer größerem Umfang erforderlichen Investitionsmittel machten bereits 1871, dem Zug der Zeit entsprechend, die Umstellung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft unumgänglich.
Das gezeichnete Aktienkapital betrug 1,5 Millionen Mark. Bereits 1872 näherte sich der Bierausstoß der Menge von 70.000 hl, und der bisherige Malzlieferant, die Malzfabrik Pankow wurde käuflich erworben. 1883-84 ermöglichte die neueste technische Errungenschaft, die Kältemaschine von Linde, die in der Brauerei installiert wurde, fortan Unabhängigkeit vom Natureis.
Durch mehrmalige Kapitalerhöhungen gut gerüstet, wurde 1891 die Berliner Brauerei-Gesellschaft Tivoli mit der Schultheiss-Brauerei vereinigt, zur künftigen Abteilung 11, der Braustätte, die bis 1966 in der Methfesselstraße bestand. Anfang 1896 betrug der Bierabsatz 427.000 hl, zu dessen Produktion und Vertrieb über 1000 Mitarbeiter im Unternehmen beschäftigt waren. In den 21 Niederlassungen zählte man außerdem 350 Pferde und 300 Bierwagen. 1896 wurde auch der Zusammenschluß mit der Brauerei Zum Waldschlößchen AG in Dessau, der späteren Abteilung III, vollzogen. Der Zugewinn betrug 150.000 hl, wodurch der Gesamtabsatz der Schultheiss-Brauerei auf 630.000 hl anstieg und die Position der größten Brauerei Europas eingenommen wurde.
Richard Roesicke, nunmehr Generaldirektor des Unternehmens, war schon 1871 privat in den Besitz dieses Betriebes gelangt. Da er aufgrund des schlechten Zustandes des Betriebes vor einer Übernahme gewarnt worden war, hatte er zu diesem Zeitpunkt eine Verschmelzung mit der Schultheiss-Brauerei ausgeschlossen.
Die von ihm eingeleiteten Sanierungsmaßnahmen führten in den Folgejahren zu dem erhofften Erfolg und rechtfertigten im Nachhinein die Übernahme und letztendlich die Übertragung an die Schultheiss-Brauerei. Eine von edler Gesinnung geprägte Aktion, auch heute noch vorbildlich!
Im Geschäftsjahr 1897/98 stieg der Bierausstoß auf gut 700.000 hl, bei einem Ausfuhranteil von beachtlichen 180.000 hl. Diese Tatsache war mit ausschlaggebend für den Erwerb der Brauerei Borussia in Niederschöneweide 1898, der alsbaldigen Abteilung IV. Der besondere Vorzug dieses Betriebes bestand hinsichtlich des stetig steigenden Bierexports in seiner Lage in direkter Nähe zu Spree und Eisenbahn.
Angesichts des beständigen Wachstums des Unternehmens wurde im Jahr 1898 zur einheitlichen Leitung ein Zentralbüro in der Voßstraße 26 im westlichen Teil der Stadt eingerichtet, mit zentralen Funktionen in den Bereichen Einkauf, Finanzen, Versicherungs- und Steuerangelegenheiten, um nur die wichtigsten zu nennen.
Bestand die Schutzmarke bis Anfang 1898 in dem "Faß mit dem Berliner Bär", erfolgte nun die Umstellung auf die bereits für das Auslandsgeschäft eingetragene Schutzmarke "Eisernes Kreuz" für alle Biersorten - gekrönt mit einem Absatz von 785.000 hl, bei einem Anteil an Flaschenbier von immerhin schon dreißig Prozent, 70.000.000 Flaschen.
Im Dezember 1899 erhielt die Kundenzeitschrift "Der Schultheiss Anzeiger" eine neue Titelvignette, den Schultheiss mit den Zeichen seiner Würde: dunkler Talar, Stock, Kette und Medaille. Der Schultheiss wurde nicht nur als historische Persönlichkeit herausgestellt, sondern auch in Anlehnung an den gleichlautenden Namen des Vorbesitzers Jobst Schultheiss. Die Schwelle zum 20. Jahrhundert überschritt die Schultheiss-Brauerei mit einem Bierausstoß von 850.000 hl. Mit 1834 Beschäftigten zählte sie zu den 296 Riesenunternehmen (über 1000 Beschäftigte) in Deutschland.
Im Jahr 1902 wurde zwischen den Berliner Brauereien ein Vertrag über die einheitliche Bepfandung der Bierflaschen mit zehn Pfennig pro Flasche geschlossen, was bei einem Absatz von gut 900.000 hl und einem Flaschenbieranteil von vierzig Prozent für die Schultheiss-Brauerei letztendlich unumgänglich in Hinblick auf die Liquidität war.
Der Erfolg Richard Roesickes als Geschäftsmann, der bis zu seinem Ableben 1903 das Brauereiunternehmen von 10.000 auf 937.000 hl Absatz geführt hatte, kann als ungewöhnlich bezeichnet werden und ist begründet in einer soliden finanziellen Geschäftsführung und gleichbleibend anerkannter Qualität des hergestellten Produktes. Fußte das Bierbrauen zum Zeitpunkt des Eintritts von Roesicke in das Unternehmen auf Empirie, so war Roesicke einer der Tatkräftigsten, um der Praxis auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Seite zu stellen.
Seiner Initiative ist es zu verdanken, daß 1883 die Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin gegründet wurde, die er als Vorsitzender in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens leitete. Sie befindet sich in der Seestraße im Wedding und ist noch heute eines der führenden Institute in der Ausbildung der Brauereitechniker und -technologen.
Mag in den Augen vieler seiner Zeitgenossen das eigentliche Werk Richard Roesickes die Schultheiss-Brauerei gewesen sein, muß rückblickend festgestellt werden, daß die Leistung, die er im Dienst der allgemeinen Wohlfahrtspflege, sowohl auf der politischen Bühne als auch zum Wohl seiner Arbeitnehmer vollbrachte, wohl die hervorragendere war.
Bewogen hatte ihn dazu der Gedanke, daß ihm in Hinblick auf seine persönliche finanzielle Absicherung der glückliche Zufall vor so vielen anderen einen Vorzug gewährt hatte, den - wenn möglich auszugleichen ihm ein Bedürfnis wurde. Darin bestärkt wurde er durch ein schweres Brustleiden, das ihn Ende der sechziger Jahre befallen hatte und von dem er erst durch langwierige Kuraufenthalte geheilt wurde. Wirtschaftlich schwache, kranke und anderweitig hilfsbedürftige Menschen angemessen zu unterstützen, wurde ihm zum Lebensprinzip.
Faulheit, Unaufrichtigkeit und Verantwortungslosigkeit duldete er nicht. Für Roesicke galt das Gleichmaß von Pflichten und Rechten, von Leistung und Gegenleistung als oberstes Gesetz für alle im unternehmen Beschäftigten. Trägheit bei der Arbeit war für ihn gleichbedeutend mit Diebstahl am Arbeitsgenossen.
Zeitgenossen und Freunde von Richard Roesicke haben über sein soziales Handeln und Empfinden vielfach berichtet. Über seine schriftlichen Darlegungen und seine Reden ist der breiten Öffentlichkeit jedoch wenig bekannt geworden, und so bietet es sich an, sein sozial geprägtes Lebensbild darzustellen.
Die bedeutendste Aufzeichnung Roesickes ist seine 1887 im H.S. Art'l-Verlag erschienene Schrift "Arbeiterschutz". Dabei handelt es sich um die Antwort auf die von Wilhelm Oechselhäuser 1887 veröffentlichten Artikel "Arbeiterschutz" und "Die sozialen Aufgaben der Arbeitgeber".
Oechselhäuser (1850-1923) war Generaldirektor der Deutschen Continental-Gesellschaft Dessau und setzte sich als Vorsitzender des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) für die Belange des Ingenieurstandes ein.
Aufgrund eigener Erfahrungen und Anschauungen unterbreitet Roesicke praktische Vorschläge, unter welchen Gegebenheiten Unternehmer allein die notwendigen sozialen Einrichtungen schaffen sollten, und in welchen Fällen Staat und Unternehmer gemeinsam zu handeln hätten. Er verlangt, die Arbeitnehmer stets selbst in die Verwaltung der für sie geschaffenen Einrichtungen einzubinden.
Roesicke führt aus, es sei wichtig, "nicht nur den einen oder anderen, sondern eine große Zahl von Arbeitgebern zu einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen sich und ihren Arbeitern und zur Einführung gewisser wohltätiger Einrichtungen in ihren Betrieben zu bewegen; er wird sie vor allen Dingen zu der Einsicht bringen, daß nicht nur die Moral, sondern auch ihr eigenes Interesse ihnen die Pflicht auferlegt, die Arbeit der Arbeiter als ebenso berechtigte Macht anzusehen, wie sie das Kapital der Arbeitgeber darstellt."[3]
Lehnt Roesicke in seiner Schrift die sozialistische Lehre auch ab, so fügt er doch an: "Natürlich ist hiermit nicht gesagt, daß alles, was die Sozialisten erstreben, unberechtigt sei. Die Berechtigung des Sozialismus liegt aber nur in der geforderten Besserung der sozialen und materiellen Lage der arbeitenden und besitzlosen Klassen, das Unberechtigte dagegen liegt in der Forderung allgemeiner und völliger Gleichheit.[4]
Im Interesse des sozialen Ausgleichs erschien ein gutes Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ihm wichtig. Dem Staat größere Einflußnahme auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse einzuräumen, die Arbeitgeber zu gewissen Leistungen gegenüber den Arbeitern gegenüber anzuhalten, das waren seine Grundgedanken. In einem Land, in dem Schulzwang bestehe, müsse die Beschäftigung schulpflichtiger Kinder verboten sein.
Wo Frauenarbeit auf bestimmte Gewerbe beschränkt sei, sei es konsequent, Frauen- und Mädchenarbeit in der Nacht zu verbieten. Und wo es den Kommunen gestattet sei, die Hauseigentümer zur Feuerversicherung ihrer Gebäude und zum Anschluß an die Kanalisation zu zwingen, erscheint es Roesicke ebenso angemessen, die Arbeitgeber zu verpflichten, zur Unterstützung von invaliden und altersschwachen Arbeitnehmern beizutragen. Außerdem forderte er ein Arbeiterschutzgesetz. Für neu zu schaffende Industrien müßten auch neue Grundsätze greifen, auch die Pflichten des Staates müßten den gegebenen Änderungen angepaßt werden. Der Arbeiterschutz sollte dem sozialen Frieden dienen! "Staatshilfe und Selbsthilfe vereint, können und müssen diese Besserung bewirken. Dann, aber auch nur dann werden wir vor der sozialen Revolution bewahrt bleiben."[5]
Forderungen dieser Art waren für viele Industrielle und Unternehmer unfaßbar. So ist Roesickes Forderung nach einer Arbeitslosenversicherung erst ein Menschenalter später verwirklicht worden. Er wünschte sich, die der Arbeiterfrage auf neutralem Boden zu verhandeln, auf dem Männer aller Parteien sich zum Wohl der Allgemeinheit zusammenfänden. Die 1889 in Berlin veranstaltete Ausstellung zur Unfallverhütung verdankte Entstehung und Erfolg überwiegend Roesickes Initiative.
Mit aller Schärfe vertrat Richard Roesicke den Standpunkt, den Normalarbeitstag unter Nichtbeachtung der Überstunden durch eine Maximal-Arbeitszeit zu ersetzen. Die gerechte Entlohnung der Arbeiter und Bemessung ihrer Steuerleistungen waren ihm gleichfalls wichtig: "Zu diesem Zweck würde neben der Aufhebung aller, die notwendigen Konsumartikel der ärmeren Klassen belastenden steuern, vor allen Dingen die Einführung einer progressiven Einkommenssteuer und einer Erbschaftssteuer, nicht etwa in mäßiger, sondern in starker Progression erforderlich sein."[6]
Im Jahr 1889 wurde Richard Roesicke als Vertreter der Fraktion der Liberalen für den Wahlkreis 1 von Sachsen-Dessau als Abgeordneter in den Reichstag gewählt und trat später in die weiter links stehende Fraktion der Freisinnigen Vereinigung über.
Seine patriarchalisch geprägten, aber immer ausgleichenden und gerechten Anschauungen über ein zu schaffendes Sozialwerk, begleitet von betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen, führten in den folgenden Jahren - insbesondere vor den Reichstagswahlen - zu erbitterten Angriffen sowohl von der linken als auch von der rechten Presse.
Die Konservativen warfen ihm vor, mit seiner sozialen Anschauung den Betriebsfrieden zu zerstören und die Betriebskosten in die Höhe zu treiben, sprich: die Konkurrenzfähigkeit zu beeinträchtigen. Die Sozialistenführer unterstellten ihm, mit seinen Wohlfahrtseinrichtungen nur aus Eigennutz eine Politik der Volksverdummung und der Ablenkung der Arbeiter von ihren entscheidenden Zielen zu betreiben.
So wurde der arbeiterfreundliche Roesicke von den Sozialisten schärfer angegriffen als die Gegenkandidaten aus dem konservativen Lager. Mißliebig wurde von seinen Gegnern bemerkt, daß er beim Tod Wilhelm Liebknechts unter denen war, die dem sozialdemokratischen Führer die letzte Ehre erwiesen. Als Reichstagsabgeordneter fühlte er sich dazu verpflichtet, sein Hang zur Gerechtigkeit überwog jedes kleinliche Bedenken!
Das Sozialwerk, das Richard Roesicke gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zu seinem Tod in den Schultheiss-Betrieben gestaltete, umfaßte eine Vielzahl von Einrichtungen, unter anderem frei gewählte Arbeiterausschüsse, Betriebssparkasse, Lohnzulagen oberhalb der Tariflöhne, selbstverwaltete Küchen und Kantinen, Invalidenwerkstatt, Erholungsreisen, juristische Beratung, Unterstützungskasse für Witwen, Waisen und außergewöhnliche Fälle, Einrichtungen für Kinder der Arbeitnehmer in jedweder Form und als Krönung die Richard-Roesicke-Beamten-Pensionskasse und Unterstützungskasse. Als geeignetes Organ zur Veröffentlichung der Beschlüsse der Arbeiter-Ausschußsitzungen wurde der "Schultheiss-Bote" aufgelegt.
Neben seiner politischen und wirtschaftlichen Tätigkeit war Roesicke Handelsrichter in Berlin, nichtständiges stellvertretendes Mitglied des Reichsversicherungsamtes, ab 1890 Vorsitzender des Verbandes der Deutschen Berufsgenossenschaften und Mitglied verschiedener wirtschaftlicher Verbände und sozialpolitischer Vereinigungen sowie Vorsitzender der Landesversicherungsanstalt Berlin.
Die Vielzahl der Ehrenämter und Aufzeichnungen aufzuzählen, wäre nicht im Sinne von Richard Roesicke. Eine glückliche Ehe verband ihn seit 1872 mit seiner Frau Luise, einer fürsorglichen Mutter und klugen Beraterin. In ihren Armen verstarb Richard Roesicke am 21. Juli 1903 nach einer schweren Operation.
Gleich einer Katastrophe wirkte die Nachricht von seinem Tod: Für sozial empfindende Unternehmer und die davon abhängigen Arbeitnehmer ein Verlust, für den man keinen gleichwertigen Verfechter in der Nachfolge ausmachte; die Liberalen verloren einen Vertreter ihrer freiheitlichen Grundsätze in der ersten Reihe.
Sein Grab wurde mit Kränzen überschüttet. Mit Recht wies die ihm zugeneigte Presse in ihren Nachrufen auf seine große sozialpolitische Bedeutung hin. Mit den Worten "sein Name bedeutet Programm, möge der Liberalismus in Deutschland im Geiste Richard Roesickes seine Zukunft im Auge behalten zum Wohle des deutschen Vaterlandes", können die veröffentlichten Artikel zusammengefaßt werden. Und seine Mitarbeiter trauerten über" den wahrhaft väterlichen Freund und allzeit eifrigen Förderer ihrer Interessen".
Beigesetzt wurde der Verstorbene auf dem Friedhof St. Petri in der Friedensstraße 81 in Friedrichshain. Das einige Zeit später nach dem Entwurf von Franz Schwechten errichtete Mausoleum wurde Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts durch Finanzmittel der Schultheiss-Brauerei restauriert und erstrahlt fast wieder im ursprünglichen Glanz.
Literaturhinweise
H. S. Art'l: Richard Roesicke. Sein Leben und Wirken, Berlin 1904.
Friedrich Hayduck: Richard Roesicke. Ein großer Sozialpolitiker, Berlin 1952.
Die Schultheiss-Brauerei in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von der Schultheiss-Brauerei, Berlin 1910.
Anmerkungen
1 Hayduck, Roesicke, S. 12.
2 Ebenda, S. 8.
3 Ebenda, S. 11f.
4 Ebenda, S. 12.
5 Ebenda, S. 15.
6 Ebenda, S. 6.
Aus: Mitteilungen 3/2003. Redaktion: Gerhild H. M. Komander
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