Jakob Tiedtke (1875-1960): Der tyrannische Kleinbürger
(Charlottenburg, Waldfriedhof Heerstraße, Trakehner Allee 1, Feld II-Ur6-129-G)

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Nachdem Tiedtke die Schauspielschule des Königlichen Schauspielhauses absolviert hatte, trat er in kleineren Rollen auf, zum Beispiel als Wagner, Fausts „studentische Hilfskraft“. Den Faust spielte sein Lehrer und Idol Adalbert Matkowsky. Und wenn dieser als Karl Moor in Schillers Räubern über die Dörfer zog, folgte ihm Tiedtke als Spiegelberg.

An Max Reinhardts Deutschem Theater wurde Tiedtke bekannt als „Leichenvogel“: Wenn er nicht selber spielte, saß er im Parkett, um beim Ausfall eines Darstellers sofort einspringen zu können. Die in Frage kommenden Rollen hatte er alle im Kopf. So wurde er Reinhardts fleißigster Chargenspieler, der in über 100 Inszenierungen meist alte Männer darstellte wie den Medizinalrat Dr. von Brausepulver in der Uraufführung von Frank Wedekinds Kindertragödie Frühlings Erwachen (1906).
Der Übergang zum Komiker kam mit zunehmender Leibesfülle. Tiedtke erzählt, wie er einmal für einen erkrankten Darsteller einspringen und den alten Moor spielen sollte, der vom eigenen Sohn in den Hungerturm gesperrt wird.

„Alle meine Einwände, dass mein äußerer Habitus – ich wog damals über zwei Zentner - , wenn ich aus dem Hungerturm käme, geradezu eine groteske Reklame für die Moorsche Schloßküche bedeuten würde, wurden mir vom Besetzungsbüro als faule Ausrede zurückgewiesen. Reinhardt hatte erklärt: ‚Ein guter Schauspieler muß alles spielen können.“

Der geborene Berliner Tiedtke wollte immer möglichst realistisch spielen, sich nie über seine Figuren erheben oder satirische Kommentare darstellen. „Ich will ja nich, daß man sieht, daß det een Schauspieler is! Det is meen Jlaubensbekenntnis“. Er mied die Übertreibung, strebte nach Maß und Natürlichkeit und war im Privatleben stolz darauf, dass die Leute zu ihm sagten: „Wüßte ich nicht, dass Sie der Tiedtke sind, nie würde ich Sie für den Tiedtke halten!“ „Ick bin normal“; darauf war er stolz.
Er wurde so populär, weil er als Komiker noch das alte Berlin verkörperte, die Weißbiertype oder den abenteuerlustigen Onkel aus der Provinz, der in der Großstadt was erleben möchte, aber Angst vor seiner Frau hat (wie in der alten Posse Kyritz-Pyritz). Aber er konnte auch ungemütlich werden, und dadurch ist er in die Theatergeschichte eingegangen. Tiedtkes Spezialität waren die unangenehmen seelischen Ausdünstungen des deutschen Kleinbürgers, und wo konnte man die besser wahrnehmen als in Carl Sternheims satirischem Komödien-Zyklus Aus dem bürgerlichen Heldenleben? Als 1911 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters nach etlichen Auseinandersetzungen mit der Zensur Die Hose uraufgeführt wurde, spielte Tiedtke den Theobald Maske. Alfred Polgar schreibt:

„Man konnte den deutschen Trialismus von Kraft, Ordnung und Sitte nicht trumpfiger der Welt hinspielen, als es dieser Tiedtkesche Vollbart tat. (...) An seinen Bühnenmenschen klebt das Erdreich, dem sie entsprossen sind, und ihrer Seele Ahnenreihe geistert um sie. Für pergamentene, säuerliche, verzwickte Figuren, für Kleinbürgerliches, zumal, wo es sich tyrannisch gebärden darf, ist er der ideale Schauspieler.“

Eine besondere künstlerische Freundschaft verband Tiedtke mit Gerhart Hauptmann. Als der Dichter 1913 im Deutschen Künstlertheater (Nürnberger Straße) Kleists Zerbrochenen Krug inszenierte, war er der Dorfrichter Adam. „Nach Jahrzehnten wirklich ein Adam“, schrieb begeistert Siegfried Jacobsohn. „Mit dem ersten Griff hat Tiedtke den Kerl gepackt, dies Probestück für den Humoristen großen Stils. (...) Tiedtke ist vielleicht ein bißchen zu gutartig für den Gauner. Aber mit seiner fettigen Stimme, die aus der Schlaftrunkenheit allmählich bis in die ohnmächtig–heisere Wut übergeht; mit den boshaft oder feige flackernden Äuglein; mit alledem ist Reinhardts kleiner Chargendarsteller doch ein Dorfrichter Adam und ein Besitz der deutschen Schauspielkunst geworden.“ Hauptmann schrieb später (1921) noch eigens ein Stück für Tiedtke: Peter Brauer, die Tragikomödie eines malenden Nichtskönners. Es war ein schwaches Stück, aber Tiedtke trug es auf seinem breiten Rücken über hundert Gefahren hinweg einem großen Erfolg entgegen.

Neben dem Theater drehte Tiedtke zahllose Filme. Etwa 600 sollen es geworden sein. In der Stummfilmzeit war er ein bevorzugter Darsteller des Regisseurs Ernst Lubitsch. Als dann der Tonfilm kam, gab es für Tiedtke reichlich Arbeit. Seine imposante Gestalt wurde immer wieder gern für schrullige und drollige Typen eingesetzt. Erinnert sei nur an Berlin Alexanderplatz (1931) nach dem Roman von Alfred Döblin.

Als Tiedtke immer älter wurde, pflegte er zu sagen: „Ich bin der einzige, der noch glaubt, dass ich mal jung war.“ Im Jahre 1955 verlieh man ihm das Bundesverdienstkreuz und der Verein für die Geschichte Berlins ernannte ihn zum Ehrenmitglied. Sein 50jähriges Bühnenjubiläum und seinen 85. Geburtstag konnte er noch feiern. Danach fiel er in tiefe Bewusstlosigkeit und starb am 30. Juni 1960 in Berlin, wo er am Kottbusser Damm auf die Welt gekommen war (als Neukölln noch Rixdorf hieß), um sie in Kladow in einem kleinen Häuschen mit Blick auf die Havel wieder zu verlassen. Seine nachgelassenen Lebenserinnerrungen, die nie veröffentlicht wurden, nannte er: „Aufrichtigkeiten eines ermüdeten Lügners.“

Text: Gerold Ducke; Fotos: Erika Babatz
Auszug aus ihrem Vortrag „Friedhof der Schauspieler, Zweiter Akt“, gehalten Im Rahmen der Vortragsreihe des Vereins für die Geschichte Berlins am 16. September 2015.