Guido Thielscher (1859-1941): „Erinnerungen eines alten Komödianten“
(Friedhof Wilmersdorf, Berliner Straße 81-103, Abt. D3-1-8/10, Ehrengrab)
Guido Thielscher aus Königshütte in Oberschlesien war vom „Theaterteufel“ besessen. Er lief von zu Hause weg und ging bei einem kleinen Wanderzirkus in die Lehre. Nach dem Tode seines gestrengen Vaters kehrte er zwar in die Arme seiner Mutter zurück, floh aber weiter vor einer bürgerlichen Existenz und hielt es auf keiner Lehrstelle länger aus. Als er 16 war, zog seine Mutter mit ihm nach Berlin, und Guido trat dem Theaterverein Einigkeit in der Großen Frankfurter Straße bei. Nach Schauspiel- und Gesangsunterricht führte er bei einer reisenden Schmiere ein Leben als „dramatischer Hungerkünstler“. Die Monatsgage betrug zwanzig Mark, wurde aber niemals ausgezahlt, weil der Direktor ein Quartalssäufer war. Vor dem Hungertod retteten ihn Engagements an verschiedenen Berliner Lachtheatern. Am Adolf-Ernst-Theater in der Dresdner Straße spielte er (1893) die Rolle seines Lebens in einem der größten Bühnenerfolge des abendländischen Theaters - in Charleys Tante von Brandon Thomas. Alles dreht sich hier um einen Sportstudenten aus Oxford, der sich in die Millionärin Donna Lucia aus Brasilien verwandelt. Heute nennt man so etwas Travestie. Thielscher war die erste deutsche „Tante“. Er turnte In Flanellwäsche und mit Kapotthütchen durch den genialen Klamottenschwank und wurde damit zu einer Berliner Sensation, die sich auch Kaiser Wilhelm II. nicht entgehen lassen wollte. Da die Dresdener Straße nicht hoffähig war, gab man eine Sondervorstellung im Neuen Palais zu Potsdam. Eine bessere Reklame war nicht möglich. Adolf Ernst, der Direktor des Theaters, ein robuster Geschäftsmann, konnte sich drei Jahre später als Possenmillionär zur Ruhe setzen.
Nachdem Thielscher an die Tausendmal in Frauenkleidern aufgetreten war, eröffneten sich ihm neue künstlerische Horizonte: Otto Brahm, der Leiter des Deutschen Theaters, nahm ihn (1896) in sein Ensemble auf. Thielscher war glücklich, auf den Brettern von Berlins führender Bühne zu stehen. In Schillers Räubern mit Josef Kainz als Franz Moor spielte er einen Pater. „Und das war mein Verhängnis“, schreibt er in seinen Erinnerungen, „zumal ich jahrelang hintereinander meinen Unfug als Charleys Tante getrieben. Es trat nämlich etwas ein, was man nicht für möglich gehalten hätte: Das Mönchsgewand hatte die Erinnerung an diese Rolle heraufbeschworen. (...) Als ich die Bühne betrat, empfing mich – ohne das geringste Verschulden meinerseits – eine Lachsalve. (…) Mich überkam eine schmerzliche Scham. Ein Abgrund tat sich vor mir auf. Die Räuber verzogen sich nach des Waldes tiefsten Gründen.“
Nach diesem „Erfolg“ fühlte sich Thielscher am Deutschen Theater irgendwie deplatziert und kehrte reumütig in die Dresdner Straße zurück. Das Adolph-Ernst-Theater hieß inzwischen Thalia-Theater. Thielscher lernte hier den Komponisten und Kapellmeister Paul Lincke kennen, freundete sich mit ihm an, und nach ein paar Jahren verließen beide das volkstümliche Thalia-Theater, um an das feudale Metropol-Theater in der Behrenstraße zu wechseln, wo sich die mondäne Oberschicht der wilhelminischen Gesellschaft amüsierte. Die Stars der glanzvollen Ausstattungsrevuen hießen Fritzy Massary (1882-1969) und Joseph Giampietro (1866-1913). Thielscher wurde der Dritte im Bunde. Seinen ersten Auftritt hatte er in der Revue Das muss man sehen! (am 14. September 1907). Viele weitere folgten. Der lange, hagere Giampietro aus Wien persiflierte immer die Offiziere und aristokratischen Lebemänner, während der runde, schlagfertige Thielscher die schnoddrigen Berliner Maulhelden gab. Don Quichotte und Sancho Pansa.
Nach dem Ersten Weltkrieg war die Zeit der großen Metropol-Revuen vorbei und in den 1920er Jahren wirkte Thielschers Humor ein wenig gestrig. Jetzt standen andere Komiker im Rampenlicht, die zumeist jene einzigartige Melange von jüdischem Witz und Berliner Humor verkörperten: Max Pallenberg, Max Hansen, Curt Bois, Paul Morgan, Siegfried Arno, Paul Graetz und andere. Und sie alle huldigten ihrem Altmeister Guido Thielscher zum 50jährigen Bühnenjubiläum. Nie zuvor und nie danach standen so viele große Komiker gemeinsam auf einer Bühne wie an diesem 27. März 1928 im Lustspielhaus an der Friedrichstraße. In ein paar Jahren würden die meisten von ihnen Berlin unfreiwillig verlassen müssen.
Gudio Thielscher verabschiedete sich 1934 mit dem Schwank Der müde Theodor (im Rose-Theater) und 1938 erschienen seine Memoiren: Erinnerungen eines alten Komödianten. Das Vorwort dazu schrieb Hans Hinkel (1901-1960), im Propagandaministerium zuständig für die „Entjudung“ der deutschen Kultur. Und Thielscher, der alte Komödiant, verneigte sich vor den braunen Machthabern: „Ein gnädiges Schicksal hat mich hineinwachsen lassen in eine neue und so große Zeit unseres Volkes und auch seines Theaters. (...) Ich lebe mit dem Theater gerade heute, da es am Beginn einer so großen Zukunft steht und unser Deutschland seinen ersten Künstler als Führer hat. Daß ich diese Zeit erleben konnte, dafür danke ich dem Schicksal.“ Guido Thielscher starb 1941 während eines Erholungsurlaubes im schlesischen Bad Salzbrunn an einem Herzschlag. Zehn Jahre später tauchte ein Reporter in einem Berliner Altersheim auf, um seine Frau Ida, mit der er 54 Jahre lang verheiratet gewesen war, zu befragen. Sie sagte gar nichts, sondern kramte nur in ihrer Handtasche und stellte ein kleines Bild von ihm im zerbrochenen Rahmen vor sich hin. Es war das einzige, was der Krieg ihr von ihrem „Guidchen“ übrig gelassen hatte.
Text: Gerold Ducke; Fotos: Erika Babatz
Auszug aus ihrem Vortrag „Friedhof der Schauspieler, Zweiter Akt“, gehalten Im Rahmen der Vortragsreihe des Vereins für die Geschichte Berlins am 16. September 2015.