Arnold Rieck (1876-1924): Der verhinderte Tragöde
(Dreifaltigkeits-Friedhof II, Kreuzberg, Bergmannstraße 39-41, O-10-19)

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Der gebürtige Berliner Arnold Rieck stand fast jeden Abend oben auf der Galerie des Königlichen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt, um Hamlet oder Romeo und Julia zu sehen. Er nahm Schauspielunterricht, debütierte am Hoftheater zu Gera, aber seine Körpergröße machte ihm einen Strich durch die Rechnung: An diesen Romeo reichte keine Julia heran. So musste er sich die Heldenlaufbahn abschminken und wurde - wider Willen – zum Komiker.

Rieck hatte großes Glück, er war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Bislang war die Operette das Monopol der Wiener gewesen. Die Komponisten und Textdichter mussten Österreicher sein wie Johann Strauß oder Leo Fall und eine erfolgreiche Operette in und um Wien spielen. Doch im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts, am 30. April 1899, kam im Apollo Theater in der Friedrichstraße die Berliner Operette auf die Welt. Und während die Österreicher auf dem Boden der Tatsachen blieben, flogen die Berliner zum Mond. Frau Luna nannte sich das Werk und der Komponist hieß Paul Lincke (1866-1946). Der Erfolg war sensationell. Noch heute kennt jeder die Berliner Luft, Luft, Luft . . . Und mit von der Partie war Arnold Rieck als Schneider und Mondfahrer namens Lämmermeyer.

Riecks weitere Karriere ist eng mit dem märchenhaften Aufstieg des Komponisten Jean Gilbert (1879-1942) verbunden, der seit 1910 Kapellmeister und Komponist am Thalia-Theater und neben Paul Lincke und Walter Kollo (1878-1940) einer der Väter der neuen Berliner Operette war. Er hieß eigentlich Max Winterfeld. Aus Geschäftsgründen (Französisch war chic) nannte er sich Jean Gilbert. Seinen ersten großen Erfolg hatte er in Cottbus mit der Polnischen Wirtschaft, einer Posse mit Gesang und Tanz (so nannte sich die Berliner Operette in ihren Anfängen). Nach dem Erfolg in der Provinz war am 6. August 1910 die Berliner Premiere im Thalia-Theater. Es wurde der größte Erfolg, den dieses Theater bis dahin erlebt hatte: Zwischen 580 und 1600 Aufführungen. Je nach Quellenlage. Es ging mal wieder um das bewährte Possen-Motiv bürgerlicher Doppelmoral und Scheinheiligkeit. Arnold Rieck spielte und sang einen Berliner Stadtrat, der durch eine polnische Lebedame in peinliche Situationen gerät. In seinem Erinnerungsbuch Mein lachendes Spree-Athen (1968) schrieb Egon Jameson: „Arnold Rieck sang (1910) in der ‚Polnischen Wirtschaft’, und die Berliner schüttelten sich vor Lachen, und Parkett, Rang und Galerie des Thalia-Theaters in der Dresdener Straße gröhlten und schlugen sich auf die Schenkel. Noch waren Fernandel, Chaplin und Tati nicht erfunden – Komiker, die er alle in sich vereinte. Das Lachen der fröhlichen Berliner tönte noch bis Mitternacht durch die Straßen.“ Noch erfolgreicher war zwei Jahre später Gilberts Operette Puppchen. In der Vossischen Zeitung vom 20.12. 1912 lesen wir:"Was in dem Stück vorgeht, braucht man nicht zu erfahren. Wer es nachzuerzählen vermag, verdient mindestens einen der vielen Lorbeerkränze. Der leitende Gedanke besteht darin, daß Herr Arnold Rieck zum Träger dieser Posse gemacht wurde. Das gibt ihr das Rückgrat. Arnold Rieck ist eben das "Puppchen", unter welcher Kosebezeichnung er den verliebten Damen des Stückes vorteilhaft bekannt ist; ein Jüngling noch vor dem Bartflaum, ein schlimmer Kleiner von der gesegneten Körperlänge, mit der die Natur diesen ausgezeichneten Komiker bedacht hat. (…) Den größten Anklang unter den Liedern fand das Duett Riecks mit Fräulein Elsa Grünberg ‚Puppchen, du bist mein Augenstern!’, das dreimal zur Wiederholung verlangt und dann vom Publikum viermal nachgesungen wurde.“ Die Kritiker hätten es gern gesehen, wenn Arnold Rieck in die Sphäre Shakespeares aufstiegen wäre, aber beim Publikum wurde er immer beliebter, gerade weil er sich nicht änderte. Dass er mit seinem Schicksal, das ihm die Tragödie verweigert hatte, versöhnt war, zeigt folgende Anekdote, die Egon Jameson übermittelt hat:„Eines Abends (erzählt Rieck) stand ein junger Mann in meiner Garderobe und wollte unbedingt von mir wissen, wie man Komiker wird. Ich verstand den Ehrgeiz nicht. Warum wollen Sie denn keinen anständigen Broterwerb, fragte ich den Besucher. Er sah mich völlig verdutzt an: ‚Sind Sie denn nicht glücklich, Herr Rieck? Es ist doch ein Geschenk des Himmels, wenn es einem Spaß macht, Spaß zu machen und mit diesem Spaß zahllose vergrämte Menschen von ihrem Kummer und Mißmut zu befreien.‘ Ich habe dem Jüngling damals nicht helfen können, aber er hat mir ungeheuer geholfen. Von dieser Seite hatte ich meinen Beruf bisher noch nie betrachtet. Ich dachte lange darüber nach, bis ich bestätigt fand, was er gesagt hatte. Ja, es machte mir Spaß, Spaß zu machen. Und diese Erkenntnis . . . ich will nicht pathetisch werden, aber mal im Ernst . . . ich genoss jede Lachsalve. Ich glaube, nach diesem Durchbruch wurde ich besser und besser.“

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Im November 1924 brach Arnold Rieck in Leipzig auf der Bühne zusammen. Er hatte schon länger an einer Herzmuskelentzündung gelitten. Es sah zunächst so aus, als ob er sich wieder erholen würde, aber dann verschlechterte sich sein Zustand. Er ist nur 48 Jahre alt geworden. Sein Grab ist unsichtbar geworden. „Olle Riecke“, wie ihn die Berliner nannten, ist zugewachsen. Die Nachwelt hat sein Grab verwildern lassen.

Text: Gerold Ducke; Fotos: Erika Babatz
Auszug aus ihrem Vortrag „Friedhof der Schauspieler, Zweiter Akt“, gehalten Im Rahmen der Vortragsreihe des Vereins für die Geschichte Berlins am 16. September 2015.